esc medien kunst labor OUT OF CONTROL 2025

OUT OF CONTROL

Eines Tages werden wir uns vielleicht über eine allmächtige maschinelle Intelligenz Sorgen machen müssen. Aber zuerst müssen wir uns Sorgen darüber machen, Maschinen die Verantwortung für Entscheidungen zu übertragen, für die ihnen die Intelligenz fehlt.“ [Jon Kleinberg]

 

Krisen allerorts – Kriege, Flüchlingsströme, Pandemien, Unwetterkatastrophen, verschmutzte Meere und Böden, belastetes Trinkwasser und nicht zuletzt leere Staatskassen: Experten und Expertinnen sprechen von einer Polykrise.

Die Demokratien des 21. Jahrhunderts scheinen keine Lösungen mehr zu haben, die Probleme nicht mehr bewältigen zu können. Das System ist unfähig, wenn nicht sogar schuld?

Demokratische Politiker:innen wenden sich nicht den Sorgen und Ängsten der rechts wählenden Menschen zu, sondern übernehmen Themen und Ideen der Populist:innen und machen sie damit salonfähig. Um ihre Macht zu erhalten, koalieren sie mit rechten Parteien und verschaffen ihnen damit Zugang zu Geld, Informationen und Entscheidungsmacht. So werden auch in Europa rechtspopulistische Strömungen immer stärker. Gleichzeitig nimmt die Verunsicherung und Spaltung der Gesellschaft zu.

Barbara Prainsack, Professorin für Politikfeldanalyse an der Universität Wien und Leiterin der interdisziplinären Forschungsplattform „Governance of Digital Practices“ beschreibt mit Democratic Backsliding die quantitative und qualitative Verschlechterung der Demokratie: “Es beginnt selten mit der Abschaffung von freien Wahlen. Meistens beginnt es mit der Einschüchterung zivilgesellschaftlicher Organisationen, der freien Wissenschaft, des unabhängigen Journalismus. Es beginnt mit dem Ausspielen der Bevölkerung gegeneinander, mit dem Ausgrenzen verschiedener Bevölkerungsgruppen und mit der Einschüchterung jener, die von der propagierten Leitkultur abweichen.”

Auch Nora Wanzke stellt in ihrem Artikel u.a. die Frage, ob das System außer Kontrolle ist: “Zieht man als Grundlage die Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann heran – welche das System der Gesellschaft in verschiedene Subsysteme unterteilt – ist zu erkennen, dass das Teilsystem der Wirtschaft mittlerweile mächtiger als die anderen Subsysteme ist, gar die anderen zum Teil bestimmt. So ist seit Jahren zu beobachten, dass nicht mehr die Politik – also die demokratisch gewählten Vertreter:innen des Volkes – die Souveränität ausübt. Die Folge: Oftmals ist Politik nicht mehr Impulsgeber:in, und die Wirtschaft muss sich anpassen, sondern umgekehrt. Durch die zu große Macht der Wirtschaft kann Politik nur noch reagieren. Exemplarisch dafür ist die Automobilindustrie oder auch viele Tech-Firmen, die durch Staatsmittel und Forschungsgelder ihre Marktposition erst erlangen konnten und jetzt aufgrund ihrer großen Macht politische Entscheidungen beeinflussen können. Über allem schwebt die Drohung, sich gegen einen Unternehmensstandort zu entschieden und abzuwandern.

Aber genau das bedroht Demokratie. Demokratie bedeutet – sehr verkürzt ausgedrückt – dass alle Menschen in einem Staat dieselben Rechte haben – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Bildung oder ihres Vermögens. Aber der genannte Lobbyismus zeigt, dass mächtige Akteur:innen mehr Einfluss auf politische Entscheidungen haben als Bürger:innen, die beispielsweise zwar in systemrelevanten Berufen arbeiten, aber nicht dieselbe Einflussnahme innehaben wie CEOs, Manager:innen und andere hohe Vertreter:innen der Verbände und Unternehmen. Das System gerät außer Kontrolle.

Damit geht auch die Konzentration des Kapitals auf eine Minderheit der Weltbevölkerung einher, wie Ökonom Thomas Pikkety kritisiert. Der Kapitalismus hat mittlerweile die Ausmaße erreicht, dass r > g gilt. Also die Kapitalrendite stärker wächst als die Gesamtwirtschaft. Wer Kapital hat oder erbt, wird immer reicher – wer hart arbeitet, kann nicht mehr reich werden. Die Folge: Die berühmte Schere zwischen Arm und Reich wird immer weiter auseinanderklaffen.

Manche Ökonomen wie auch Branko Milanović sprechen von einer Verdrängung der Mittelschicht. Paradoxerweise gilt gerade aber in der Corona-Krise, dass nicht der reiche und mächtige Teil der Bevölkerung das gesellschaftliche Leben sichert, sondern diejenigen, die im klassischen Sinne nicht zu den Kapitalbesitzer:innen zählen: zum Beispiel Pflegekräfte, Supermarktmitarbeiter:innen und Rettungskräfte. Diejenigen, die häufig um mehr Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen und Anerkennung kämpfen.

Umso länger man über diese ungerechte Rollenverteilung in der Gesellschaft nachdenkt, desto ohnmächtiger wird das Gefühl. Eine sarkastische Pointe der Entwicklung des Hyperkapitalismus und zudem eine akute Bedrohung für unsere Demokratie. Um nur wenige mögliche Folgen dieser Ohnmacht zu nennen: mehr Zustimmung für Populist:innen, mehr Zuflucht in Verschwörungserzählungen, mehr Demokratieverdruss, weniger Wahlbeteiligung, weniger Diskurs und folglich ein schwacher Gegenpol, der sich meinungsstark gegen die Auswüchse des Kapitalismus und dessen Vertreter:innen einsetzen kann.

Ergänzend zu den externen Effekten, die aus der durch den Menschen geschädigten Natur und Umwelt entstehen, droht aber auch noch der externe Effekt, der aus der Gesellschaft heraus provoziert wird. Schaut man aktuell nur in die Vereinigten Staaten, wird deutlich, dass extreme Ungleichheit zwischen Bevölkerungsgruppen zu Unruhen führen können, die Systeme im Kern lahmlegen. Zusätzlich zur Corona-Krise wird das Leben in den amerikanischen Städten durch die Black Lives Matter Proteste und den darüber hinaus gewaltsamen Ausbrüchen beherrscht.

Alle externen Effekte vereint, dass sie Wirtschaft und kapitalistische Systeme bedrohen können, paradoxerweise aber auch durch die selbigen geschaffen werden und wurden. Ausgelöst durch das kapitalistische Streben nach unendlichem Wachstum.

Aber kann ein Wachstum auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen überhaupt unendlich sein? Der Ökonom Dennis Meadows warnt schon in den 1970er Jahren in seiner Studie im Auftrag des Club of Rome davor. Damals schon zeichnete der Wissenschaftler ein besorgniserregendes Bild von der Welt, die uns nun in 30 Jahren, also 2050, erwarten soll. Durch die Corona-Krisen haben wir gelernt, wie unmittelbar doch unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben bedroht werden kann – und das Vorsorge doch besser als Nachsorge ist. Auch für das langfristig gesicherte Wirtschaften, welches einerseits Gewinne und Umsatz erzielt, andererseits auch Arbeitsplätze und Sicherheit für die Bevölkerung bietet. Aber wie wird sich unsere Welt verändern, wenn diese akuten Bedrohungen zunehmen? Fest steht: Wir haben keine Zeit mehr! Der Kapitalismus muss zukunftssicher und nachhaltig gemacht werden.

Gerade in dieser Zeit werden Kapitalismuskritiker:innen wieder lauter. Hat uns das Wirtschaften nach kapitalistischen Prinzipien nicht erst dieses Ausmaß der Krise eingehandelt? Kritisch muss man in jedem Fall mit dem System umgehen. Aber eins vorweg: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung, wie die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Hermann in ihrem Buch schreibt. Es geht vielmehr darum, diesen zu zähmen. Erstens, weil uns – wie der Soziologe Wolfgang Streek deutlich macht – über Jahrhunderte der Kapitalismus anerzogen wurde und es im Wettlauf mit dem Klimawandel keine Zeit für eine grundlegende Änderung gibt.

Und zweitens, weil Demokratie und Kapitalismus eine Art Wechselspiel darstellen. Sie können nicht mit und sie können nicht ohneeinander. Demokratische Systeme schaffen ein sicheres Umfeld für Märkte und Kapitalismus ist der Motor für Technologien, Innovation, Streben nach Verbesserung, was wiederum demokratische Gesellschaftsstrukturen und dessen Zukunft sichern kann. Allerdings darf dieses ausgeglichene Verhältnis zwischen den Systemen niemals außer Kontrolle geraten. Und genau das können wir gerade beobachten.” 1

 

Inwieweit haben sich durch Kapitalismus und Neue Technologien die Machtverhältnisse geändert und wird Verfügungsgewalt durch die Inhabe von materiellen und inmateriellen Größen bestimmt und von der Bereitschaft der “Ohnmächtigen”, aus eigenem Willen den eigenen Willen (Gestaltungsmacht/ Partizipation) aufzugeben, ermöglicht?

Elon Musk unterstützt mit seinem X offen Parteien wie die AfD, Mark Zuckerberg hat die Faktenkontrolle bei Meta (Facebook und Instagramm) für Präsident Trump abgeschafft, und die italienische Staatschefin Meloni wird die – ebenfalls von Musk kontrollierte – Starlinktechnologie für das italienische Militär einsetzen. Black Rock und andere Finanzgiganten – deren Strombedarf schier unersättlich ist und ungebremst weiterwachsen darf – wenden sich ab vom Versprechen zum Green Deal in der Verwendung erneuerbarer Energien, etc.

Entsprechend haben sich vormals mit KI verbundene Themen (wie sie etwa in der hochdifferenzierten Auseinandersetzung mit „Strategien des Scheins“ 2 kumulierten) von ihrem technophilosophischen Glamour hin zu Fragen der Technologiefolgeabschätzung mit konkreten Praxisbezügen verschoben. Weniger da, wo zweifellos Fortschritte verbucht werden, etwa bei der Entwicklung von Medikamenten, von Klimamodellen oder in der Wettervorhersage – aber an Matrix gemahnt die Digitalisierung hin und wieder durch Begleitsymptome, wie die handfeste Lebenswirklichkeit sie aufweist, wenn etwa Algorithmen kompromittiertes Trainingsmaterial oder weltanschauliche Dünkel ihrer Entwickler:innen perpetuieren. Eine neue Dimension dieser Prozesse wurde erreicht und gewinnt immer mehr an Brisanz, als man begann, Algorithmen ethisch-moralische Entscheidungen zuzubilligen, wenn sie über die Vergabe von Wohnungen, Krediten, Jobs, Versicherungen usw. bestimmen; wenn sie in Sozialen Medien zur Wahl- und Wählerbeeinflussung zum Einsatz kommen; wenn ethisch-moralisches Ermessen gefragt ist – sei es beim Autonomen Fahren, sei es im militärischen Kontext, wenn, wie geplant, die Autonomie von Drohnen die Entscheidung über Leben oder Tod von Menschen einschließt. 3

In den letzten Jahren haben „Strategien des Scheins“ eine zunehmende Trivialisierung erlebt – sie sind alltäglicher, greifbarer geworden; die ursprünglich mit ihnen assoziierte rasante technologische Entwicklung wurde gewissermaßen von ihrer allgemeinen Verfügbarkeit eingeholt, fachsprachliche Ausblühungen mutieren zum gängigen Slang.

Nicht nur vollzieht sich die Verlagerung von (epistemischen) Betrachtungen hin zur Beobachtung der Dinge ohne die Stimmen von diskurstypischen Denker:innen 4 , wie sie für Betrachtungen, die ihrem Gegenstand voraus sind, maßgeblich waren – Virtualität, Künstliche Intelligenz, Simulation, Fake sind abseits der sozial- bzw. geisteswissenschaftlichen Sphäre als realpolitische, gesellschaftlich relevante Problem- und Interessensfelder Themen in „aller Munde“ –, unterdessen haben sich auch die vormals primär technologisch charakterisierten Begriffe wirtschaftlichen, politisch-ideologischen Gegebenheiten anverwandelt, sie sind greifbarer geworden.

Dabei ist eine gewisse Hybridisierung (des Alltags) zu beobachten. Wirklichkeiten, die es erlauben, dass Desinformation im industriellen Maßstab wächst und weltwirtschaftlich relevante Umsätze generiert, d.h. sich zu einem Wirtschaftszweig auswächst. 4 Die Annahme, dass diese Hybridisierung aus der digitalen Sphäre ihren eigentlichen Schwung bezieht, ist naheliegend.

 

Längst synonymisiert die Masse an internetbasierten Gratisdiensten diese mit dem Internet selbst (als würde man zu den Fahrzeugen Straßen sagen), und die Häufigkeit der Inanspruchnahme und damit verbrachte Zeit künden von einer existenziellen Dimension: Pro MINUTE – die Daten sind etwas angejahrt – werden weltweit mehr als 200 Millionen E-Mails verschickt, mehr als 200 Stunden Videomaterial auf YouTube hochgeladen, mehr als halbe Million Tweets geschrieben, mehr als 400 neue Blogeinträge veröffentlicht, mehr als eine Viertelmillion Fotos auf Facebook hochgeladen, und Google verzeichnet (bei etwa 6 Milliarden Anfragen täglich) minütlich mehr als 4 Millionen Zugriffe. ChatGPT verbuchte nur zwei Monate nach dem Start rund 100 Millionen monatlich aktive Nutzer:innen und ist damit die bis dato am schnellsten wachsende Verbraucheranwendung. TikTok brauchte noch neun Monate, um 100 Millionen Nutzer zu erreichen, Instagram zweieinhalb Jahre. 5

 

Diese schiere Menge, das gigantische Ausmaß an Produktion, Distribution und Speicherung von Daten und Information entzieht der mentalen Bewältigung indes den Boden. Dialektik der Kommunikationsgesellschaft: Je größer die bloß akkumulativ und nicht integrativ wachsende Informationsmenge, desto geringer die Chance einer sinnvollen Verarbeitung. Je geringer aber die Chance sinnvoller Informationsverarbeitung, desto geringer wiederum die Chance auf rationale Urteilsbildung als Basis für privates wie auch öffentliches Entscheidungshandeln. Je geringer die Fähigkeit und Bereitschaft zum rationalen Urteil, desto größer die Versuchung und Bereitschaft, irrationalen Deutungsmustern zu folgen, etwa dem X eine parallele Existenz als U zuzugestehen 6. Sollte sich dieser Befund als ein gesamtgesellschaftlicher Zustand bewahrheiten, so wirken dagegen Verschwörungstheorien und daraus erwachsende demokratiepolitische Probleme wie eine Modeerscheinung. Das oben skizzierte digitale Wimmelbild belegt die Verlagerung von Lebenszeit und -inhalten in die Sphäre des Digitalen so beeindruckend, dass die Rede von einer Parallelwelt durchaus angemessen erscheint (die einst populäre Vorstellung von einer KI, die sich in einem Akt spontaner Autokreation in den weltweit vernetzten Computern ins Leben ruft, dürfte sich indes als Fantasie erledigt haben).

Darüber hinaus kündet es von einem blinden Vertrauen, das umso eigenartiger anmutet, als anzunehmen wäre, dass die Kenntnis von Data-Mining unterdessen zum Allgemeinwissen zählt: „Mit Ihrer Erlaubnis [!] geben Sie uns mehr Informationen über Sie, über Ihre Freunde, und wir können die Qualität unserer Suchvorgänge verbessern Sie brauchen überhaupt nicht zu tippen. Wir wissen, wo Sie sind. Wir wissen, wo Sie gewesen sind. Wir können mehr oder weniger wissen, worüber Sie nachdenken.“ Was Google-CEO Eric Schmidt 2010 7 noch als Zukunftsvision vorgestellt hat, ist unterdessen, Machine Learning sei Dank, Realität. Vollzogen wurde auch die Verwandlung der User:innen: Dass für Gratis-Dienste mit persönlichen Daten bezahlt wird, heißt zugleich, dass man nicht Kunde:in ist, nicht Customer, nicht User:in, sondern das Produkt, das verkauft wird. Wie kommts, dass die halbe Menschheit, die sich, wenn es um ihre Daten geht, besorgt und misstrauisch gegenüber dem Staat gibt, aber zur Organisation ihres Alltags Termine im Google-Kalender einträgt, das persönliche Biotracking über Wearables in einem industriell ergiebigen Ausmaß zugänglich macht?

 

Das Jahresprogramm 2025 beleuchtet auch die positiven Aspekte des Ausser-Kontrolle-Seins als Gegenstragie, des Unkontrollierbaren im Sinne von nicht-berechenbar zu sein, nicht codierbar, nicht manipulierbar und steuerbar zu sein. Bleibt Kunst die einzige Bewegung, die sich nicht den Spielregeln des Kapitalismus unterwirft?

Was braucht es, um ein Gefühl der Hoffnung zu erzeugen, die Handlungsmacht und Partizipation zurückzugewinnen?

Die [Kunst] stellt eine Suchbewegung dar. Sie ist ein Versuch, Halt und Richtung zu gewinnen. Dabei stößt sie auch ins Unbekannte, ins Unbegangene, ins Offene, ins Noch-Nicht-Seiende vor, indem sie über das Gewesene, über das bereits Seiende hinausgreift. Sie hält auf das Ungeborene zu. Sie macht sich auf zum Neuen, zum ganz Anderen, zum nie Dagewesenen.“ [Byung-Chul Han]