Social Communities

Neue künstlerische Gemeinschaften und ihre Strategien.

“Reality is that which, when you stop believing in it, doesn’t go away”.1

 

Nachdem das esc medien kunst labor 2014 unter dem Titel Die Außenwelt der Innenwelt der Außenwelt versucht hat, seine Erinnerungsspeicher zu defragmentieren, und bevor es 2016 daran gehen wird, Utopie zu formulieren, steht im heurigen Jahr eine (selbst)kritische Standortbestimmung im Zentrum. Wie stellt sich die Welt, die Gesellschaft, die Gemeinschaft hier und jetzt dar? Was sind ihre gegenwärtigen, was ihre verlorengegangenen Werte? Haben diese sozialen Entitäten demokratische Gestaltungsmacht? Leben wir (noch) zivilen Ungehorsam? Und inwiefern kann uns eine Standortbestimmung helfen, zu selbstbestimmten Menschen zu werden?

 

Das technosoziale Gefüge2 unserer heutigen Gesellschaft scheint zwischen den Polen zweier Philosophien aufgespannt, die trotz ihrer Gegensätzlichkeit ursächlich miteinander zu tun haben. Auf der einen Seite der Communitarianism, der – vereinfacht ausgedrückt – den Einzelnen (das Individuum) als soziales Wesen sieht, das notwendigerweise von der Kultur und Tradition seines Gemeinwesens geprägt ist, demzufolge jedes Mitglied in einer Gemeinschaft allen in dieser Gemeinschaft etwas schuldet und umgekehrt. Nicht eine Entindividualisierung, sondern im Gegenteil die Formung sozialer Individuen ist der Kern dieser politischen Philosophie, deren zentrale Ideen – gemeinschaftliche Verantwortung und soziale Gerechtigkeit – sich vor allem im Community-Gedanken der HackerInnen- und AktivistInnenszene manifestiert hat. Ein weiterer wesentlicher kommunitaristischer Ansatz – der Rückgriff auf alte (vorkapitalistische) Gemeinschaftsformen, in denen beispielsweise Tauschhandel eine Rolle spielt – scheint ebenso in kleineren Sozietäten wesentlich rascher und unkomplizierter realisierbar als im großen Staatswesen.

 

Dem gegenüber steht der Consumerism, eine von David Cronenberg als Fiktion entworfene Philosophie3, die den Konsum als höchste Maxime ansieht, dem alles andere unterzuordnen ist. Dabei spielt es keine Rolle, was (oder wer) konsumiert wird: Produkte, Dienstleistungen, ästhetische Artefakte, Texte, Menschen oder sogar man selbst. Bereits zu Beginn des Romans lässt der Autor eine der Hauptfiguren, die französische Philosophin Célestine Arosteguy sagen: „[…] when you no longer have any desire, you are dead. Even desire for a product, a consumer item, is better than no desire at all. Desire for a camera, for instance, even a cheap one, a tawdry one, is enough to keep death at bay.“4 Und einige Absätze weiter: „That’s why we say that the only authentic literature of the modern era is the owner’s manual.“5 Konsum als Ausdruck menschlichen Begehrens wird dazu benutzt, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Dass dies letztlich dazu führt, dass sich die gesamte Welt in einem gigantischen autokannibalistischen Akt zu Tode konsumiert, liegt auf der Hand.

 

Deshalb müssen sich HackerInnen, KünstlerInnen und AktivistInnen der „ersten Stunde“ – so auch die im und durch das esc medien kunst labor vertretenen – ernsthaft fragen, inwieweit sie nicht Entscheidendes zur dystopischen Seite der technosozialen Entwicklung beigetragen haben (übrigens eine zyklisch wiederkehrende Selbstreflexion von Menschen, die, in welcher Art auch immer, an technologischem Fortschritt arbeiten). Die Euphorie, mit der man als Kreative/r das eben im Entstehen begriffene WorldWideWeb als kommunitaristischen Raum begrüßte, in dem – endlich! – ein gemeinschaftlicher, von Konzernen unabhängiger, egalitärer Austausch von Ideen stattfinden könne6, ist lange schon der Ernüchterung gewichen, durch eben diesen Austausch am Aufbau eines rein auf Konsum aufgebauten Systems beteiligt gewesen zu sein, das von Konzernen gesteuert wird. Wann aber hat das Vergessen eingesetzt? Hat die konsumistische Haltung das Thema zu verdrängen begonnen, dass man das Internet als Werkzeug für zivilen Ungehorsam einsetzen könnte?

 

In einer demokratischen Gesellschaft ist ziviler Ungehorsam Pflicht, wie es Howard Zinn formuliert hat: “Civil disobedience is not our problem. Our problem is civil obedience. Our problem is that people all over the world have obeyed the dictates of leaders […] and millions have been killed because of this obedience […]. Our problem is that people are obedient allover the world in the face of poverty and starvation and stupidity, and war, and cruelty. Our problem is that people are obedient while the jails are full of petty thieves […] (and) the grand thieves are running the country. That’s our problem.”7

 

Dieses von Zinn eingeforderte demokratiepolitisch wichtige Handeln ist wie so manch anderes dem Vergessen anheimgefallen. Es mag daran liegen, dass sich die frühere Wissensgesellschaft in eine Informationsgesellschaft gewandelt hat, in der nachhaltiger Wissenserwerb (etwa durch Einprägen von Zusammenhängen in ein Langzeitgedächtnis) als Kulturtechnik ausgedient zu haben scheint, weil Information ohnedies zu jeder Zeit und an jedem Ort abrufbar ist. Auch Intellektuelle befragen lieber Wikipedia als sich durch Bibliotheken zu lesen. Auch KünstlerInnen und AktivistInnen twittern, googelnfacebooken, und so weiter und so fort. Die Liste ist endlos. Wissen wird nicht mehr aus eigenem Zutun produziert, sondern Information aus von Algorithmen gesteuerten Programmen reproduziert. Es entsteht eine Gesellschaft, für die Wissen und Erinnerung keine Bedeutung mehr haben. Letztere werden auf dem Altar der Information, die nun zur Grundlage für das eigene Handeln wird, geopfert.

 

Nur so kann der Generaldirektor von Google, Eric Schmidt, in einem Interview behaupten: “I actually think most people don’t want Google to answer their questions. They want Google to tell them what they should be doing next.”8

 

Wenn also Google (oder ein anderer Algorithmus) die Steuerung menschlicher Handlungen übernimmt, ist es nicht mehr weit zur posthumanen Gesellschaft. Im Alltag macht sich diese bereits in Form von zahlreichen zombieartigen Wesen bemerkbar, die auf ihre Smartphones starrend durch die Gegend irren, ohne ihre Umwelt wahrzunehmen. Um Menschen jedoch problemlos steuern zu können, müssen sie weitgehend von Wissen befreit werden. Man braucht kein Pessimist zu sein, um zu bemerken, dass Neue Medien einen Erinnerungsverlust bewirken. Dadurch geht nicht nur das Wissen verloren, sondern auch die (menschlichen) Werte, die in diesem Wissen eingebettet sind.

 

Es scheint ein Treppenwitz der Geschichte zu sein, dass ausgerechnet AvantgardistInnen, d.h. Personen deren Denken, Empfinden und Handeln auf das Zukünftige gerichtet ist, von Zeit zu Zeit innehalten müssen, um ihren Standort neu zu bestimmen. Wer in der (bzw. die) Utopie lebt, läuft Gefahr, von einer unkontrollierbaren Gegenwart eingeholt zu werden, die er / sie aus dem Blick verloren hat. Bereits Wilhelm Busch lässt seinen Forscher, der sich unter dem Motto „Schön ist es auch anderswo, Und hier bin ich sowieso“ stets mit einem Fernrohr vor dem Auge (also in die Ferne blickend) fortbewegt, in einen Teich stolpern, der auf seinem unmittelbaren Weg liegt, den wahrzunehmen er durch den intensiven Gebrauch von Technik (dem Fern-Sehen) jedoch verlernt hat.9

 

Gerade auch der europäische Iconic Turn vom 7. Jänner 201510 macht eine selbstreflexive und selbstkritische Standortbestimmung notwendig, um der Gefahr zu entgehen, erneut in einen Clash of the Civilizations hineingezogen zu werden. Wenn wir die Gründe für die Ereignisse, die uns so unerwartet getroffen haben, nicht in unserem Umgang mit der eigenen Geschichte bzw. als Teil unserer von uns selbst vorangetriebenen Entwicklung verstehen und begreifen, laufen wir denen ins Messer, die jegliche Eigenverantwortung daran bestreiten und sie ausschließlich als Angriff von Außen, als Angriff der Anderen, darstellen.

 

Um diese Herausforderung zu bewältigen, bedarf es allerdings eines Verständnisses für die (eigene) Geschichte als „Heritage“, und hier vor allem für die darin enthaltenen Werte, die wir verloren haben. Der Sound-Ökologe R. Murray Schafer hat vor rund 40 Jahren vorgeschlagen, ein Museum der aussterbenden Klänge11 einzurichten, um so die Erinnerung zu bewahren an Geräusche, die den Menschen für lange Zeiträume in ihrem Alltag begleitet und deren Leben mitgeprägt haben.

 

Aber technische Entwicklungen lassen nicht nur Klänge verschwinden, sondern auch demokratische Werte.

 

Das esc medien kunst labor setzt sich ab 2015 die Aufgabe, sich mit diesen Werten bzw. dem Wert-Verlust zu beschäftigen. Diese Auseinandersetzung ist nicht als museale Aufstellung möglich, sondern kann nur in Form einer lebendigen, sich selbst fortschreibenden Narration gelingen, an der wiederum viele Gemeinschaften beteiligt sein müssen. In diesem kreativen Diskurs trifft Geschichte auf ihre kritische Verarbeitung. So schreibt sie Tradition als kollektiven Prozess fort, ohne ihren Machtanspruch einzuzementieren.

 

Das esc medien kunst labor sieht darin eine Möglichkeit, der drohenden Geschichtslosigkeit entgegenzuwirken. Seiner Progammatik entsprechend bezieht es sich dabei ausdrücklich auf künstlerische Gemeinschaften, deren gemeinsame Plattformen die Neuen Technologien bilden: „Shared narratives are what hold communities together. The ability to tell stories is to see one’s life as part of a larger story. And so the capacity for narrative is what situates us in the world. By the drift to storylessness, I mean the tendency in modern life to think of ourselves without reference to larger frameworks of meaning and belonging. One of the great moral and civic challenges of our time is to recover our capacity to tell compelling stories that relate our identities to shared communities of value and meaning.“12

 

 

 

Programmüberblick:

 

The initial mystery that attends any journey is: 
how did the traveller reach his/her starting point in the first place?

Louise Bogan, Journey Around My Room, Autobiography

 

2015 startet mit einer Uraufführung der Opern-Installation DIE DURCHSCHEINENDE ZEIT von Peter Ablinger, einer Produktion von NOW – Oper der Gegenwart. Das Durchscheinende (Diaphane) wird sowohl inhaltlich als auch räumlich zur grundlegenden Struktur eines Stücks, das in der Durchdringung verschiedener medialer und rezeptiver Ebenen eine neue Form von Oper generiert, die die Grenzen des bürgerlichen Musiktheaterbegriffs sprengt.

 

Am 17. Jänner 2015 wird das esc medien kunst labor zu einem Schauplatz des weltumspannenden ART’S BIRTHDAY Netzwerks, in dem der 1,000.052 Geburtstag der Kunst mit Performances, Interventionen, Konzerten und Aktionen gefeiert wird. Der auf Grundlage einer Performance von Robert Filliou 1963 ausgerufene Art’s Birthday wird seitdem in einem Eternal Network als Event im Sinne des Fluxus begangen.

 

Ebenfalls im Jänner sind Studierende der FH Joanneum Multimedia- und Interaction Design in den Räumlichkeiten des esc medien kunst labor zu Gast. Unter der Leitung von Karl Stocker, Orhan Kipcak, Catherine Rollier, Josef Gründler und Daniel Fabry realisieren die Studierenden Semesterabschluss-arbeiten und zeigen sie unter dem Titel „Arbeit in Auslage“ erstmals außerhalb ihrer Ausbildungsstätte. Anschließend zeigen Studierende des Studiengangs Ausstellungsgestaltung zehn Exponate, die im Rahmen des „Young Scenographers Contes“ der Initiative „Eurovision Museums exhibiting Europe“ realisiert wurden. EXPONAT EXPORT – mit zehn Dingen durch Europa ist bis Mitte Februar im esc medien kunst labor zu sehen.

 

Mit dem von Beat Furrer und Ernst Kovacic gegründeten impuls-Festival hat sich eine internationale Ensemble- und Komponistenakademie und eine Verein zur Vermittlung zeitgenössischer Musik entwickelt, die binnen kürzester Zeit einer der international führenden Institutionen auf diesem Gebiet wurde. 2015 ist das esc medien kunst labor erstmals Umsetzungsort eines der Workshops. Georg Nussbaumer wird mit 12 KomponistInnen zehnTage lang Grenzen und Überschreitungen von Klang im Raum erforschen.

 

Noch im Jänner startet mit THINKING OUT LOUD eine sechsteilige esclab-Reihe über feministisches Hacking, die auf der Veranstaltungsreihe Ministry of Hacking aus dem Jahr 2014 aufbaut. Die Reihe greift die Strategien und Überlegungen internationaler feministischer Netzwerke auf, verbindet sie mit Erkenntnissen und Resultaten aus dem Vorjahr und arbeitet an folgenden Themen weiter, um die Produktion von zeitgenössischer Kunst im technologischen Kontext zu fördern: emanzipatorische Wissensgenerierung und -verbreitung; alternative Vorstellungen von Arbeit als gesellschaftlicher Wert; Ver- und Misstrauen; alternatives Geld und andere Formen von Ökonomie; Privatsphäre und Zivilcourage; das Öffentliche und das Private im Zeitalter des gläsernen Menschen; Durchlässigkeit vorhandener Netzwerke und Strukturen; Beteiligung und Teilhabe an Gesellschaft.

Die einzelnen Module der esclabs bestehen aus konzentrierten, klar strukturierten Arbeitseinheiten zu je fünf Tagen, in denen KünstlerInnen je eine dieser Fragestellungen vorbereiten, bearbeiten, präsentieren, diskutieren und für das nächste Modul vorbereiten. Je drei Module werden im Frühjahr und im Herbst in monatlichen Abständen aufeinander folgen.

 

Im März ist die 8-Kanal-Klanginstallation mit der Videoprojektion ASYNCHRONE ERINNERUNGEN – NACHRICHTEN VON DER GRENZE von Josef (Seppo) Gründler und Rupert Lehofer zu sehen und zu hören. Diese geht anhand unterschiedlicher Erzählungen über dieselben Ereignisse innerhalb einer Familie der Frage nach der anhaltenden Unsicherheit über den Begriff einer (geschichtlichen) Wahrheit nach. Sie beschäftigt sich mit der Gleichzeitigkeit von Ereignissen und mit der Differenz zwischen Erlebnissen und Erfahrungen, die am gleichen Ort zur gleichen Zeit auftreten können, sowie mit der Unterschiedlichkeit sprachlicher (in diesem Fall: slowenischer und deutscher) Manifestationen darüber. In der Live-Performance zur Eröffnung der Ausstellung improvisieren Rupert Lehofer und Seppo Gründler zum spontan ausgewählten Bildmaterial in und mit der Installation.

 

Mit ITERATIONEN – Kollektive Praktiken beginnt im Mai das dritte zentrale Ausstellungs/Projekt dieses Jahres. Ein temporäres KünstlerInnenkollektiv aus Brüssel, Graz und Linz entwickelt dabei ein gemeinsames Kunstwerk, für das digitale Werkzeuge in unterschiedlichster Weise genutzt werden. Dies ist gleichermaßen als konkrete Versuchsanordnung im realen Leben angelegt, als Auseinandersetzung mit kollektiven Produktionsmethoden und als Lernumgebung. Dabei werden Kunst und Wissen produziert und einer großen Zahl an Menschen zugänglich, die in weiterer Folge daran anschließen und unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit entwickeln können. Erfahrungen, die sich auf frühe digitale Kollektive und auf freie Software-(Kunst)kollaborationen stützen, werden als wichtige Quellen für jüngere Generationen technologischer KünstlerInnen diskutiert. Daher iteriert (also: wiederholt) das Projekt in Theorie und Praxis die Inspirationen, Arbeitsprozesse und Ergebnisse dieser Erfahrungen in einer Mehrgenerationengruppe von KünstlerInnen. Einige erinnern sich dabei an die Anfänge des Internets, wohingegen andere bereits in der Welt des Web 2.0 sozialisiert wurden.

 

In der Wiederholung (d.h. Erfahrungsproduktion, die wiederum einen Lernprozess generiert) möchte dieses Projekt eine diskursive Medienarbeit herstellen, die die Auseinandersetzung mit kollektiven Aspekten digitaler Kultur bereichert. Eine der zentralen Fragen, denen dabei nachgegangen wird, ist, wie die von KünstlerInnen genutzten Werkzeuge mit der Realität zusammenhängen, die sie mit eben diesen Werkzeugen erschaffen. Um dies zu untersuchen, wird die Ausstellung in zwei Bereiche unterteilt: im ersten wird die „fertige“ Arbeit gezeigt, im zweiten die Quellen und Elemente freigelegt, die zur Verwirklichung der Arbeit beigetragen haben.

 

ITERATIONEN kann als Versuchsanordnung gesehen werden, die unscharfe Grenzen aufweist. Sie erschafft eine auf Kunst basierende Situation, die sich auf andere Bereiche und Disziplinen erstreckt: Informatik, Soziologie, Privacy Studies, Network-Theory, Copyleft Studies, und ähnliches mehr. Nach der Präsentation in Graz wird die nächste Wiederholung 2016 in Brüssel, sowie eine Zwischenstufe davon im selben Jahr in Italien durchgeführt. Das Projekt ist eine Kooperation von constant (Brüssel) und esc medien kunst labor mit den KünstlerInnen und AktivistInnen Ushi Reiter, Heidrun Primas, Johannes Zmölnig, Pascale Barret, Julien Deswaef und Annie Abrahams.

 

Die Zusammenarbeit mit V:NM, dem Verein für Neue Musik, wird auch 2015 fortgeführt – das esc medien kunst labor ist seit Beginn des Festival fixer Austragungsort einiger Konzerte.

 

Im Frühjahr und Sommer 2015 setzt sich auch die Kooperation mit dem Institut für Elektronische Musik und Akustik (IEM) fort: Im April werden Gerhard Eckel und Martin Rumori im Rahmen des Projekts „Klangräume“ zwei interaktive Klanginstallationen präsentieren. Im Juli ist erstmals die International Conference on Auditory Display (ICAD), Bereich Sonifikationen, in Graz zu Gast und findet mit dem IEM einen in Graz gut vernetzten Partner. Erstmals in der Geschichte der Konferenz werden auch Klanginstallationen juriert, die im esc medien kunst labor gezeigt werden.

 

Der Offene Betrieb setzt 2015 das erste Modul des „Bildungsnetzwerks Stadt“ um. Im Dreieck der Begriffe Privatsphäre, Überwachung und Performance wird Medienkünstler und Programmierer Denis Roio aka Jaromil mit den WorkshopteilnehmerInnen die durch Überwachung entstandenen Zonen als Kunstraum für Performances und temporäre Markierungen nutzen.

 

Unter dem Titel WHAT REMAINS beschäftigt sich das esc medien kunst labor in einer Kooperation mit dem steirischen herbst-Festival mit dem Verlust und der Fortschreibung der eigenen aktuellen Geschichte. Fragen nach Überlieferung und Weitergabe von Wissen und Erkenntnis implizieren die Thematisierung sowohl der (technischen) Medien, die als Informations- und Wissensspeicher fungieren, als auch die politischen, sozialen und ökonomischen Interessen, die hinter diesen stecken und sie beeinflussen. Welche (menschlichen) Werte werden weiter überliefert, welche gelöscht? Gibt es alternative Methoden, und wenn ja, wie könnten sie implementiert werden?

 

Fränk Zimmer untersucht in seiner Installation information.storage/refresh mithilfe zweier völlig verschiedener Speichermedien – dem analogen Tonband und dem WorlWideWeb – die Fragen von Langzeitarchivierung. Linda Kronman und Andreas Zingerle (Kairus) suchen nach der Fassbarkeit, Wahrhaftigkeit und Überprüfbarkeit von der uns umgebenden Information – das Kunstwerk im Zeitalter seiner Ununterscheidbarkeit von Fälschung. Was ist Betrug, was ist wahr? Kann das durch Betrug, Korruption, Machtmissbrauch und Verrohung auf allen Ebenen zerstörte Vertrauen wieder hergestellt werden? Michaela Lakova stellt die BesucherInnen vor ein moralisches Dilemma: sie müssen durch einen simplen Mausklick entscheiden, ob Fotos von auf Flohmärkten gekauften Festplatten gelöscht oder in diesem Augenblick im Internet veröffentlicht werden. Walter Lang gestaltet Vitrinen mit verlorengegangenen kulturellen Werten: Privatsphäre und Unbeobachtetheit, Zivilcourage und ziviler Ungehorsam, Beteiligung und Teilnahme, Briefgeheimnis, Zufriedenheit und Zuversicht. Eine Vitrine wird den Heroes of the Internet, den NetzaktivistInnen gewidmet, die wie Julian Assange oder Edward Snowden im Untergrund bzw. öffentlich in quasi rechtsfreiem Raum existieren müssen, oder die – wie Aaron Swartz – diesem Druck und der Kriminalisierung ihres Handelns nicht standhielten. Die !Mediengruppe Bitnik stellt ihr Mailartprojekt "Delivery for Mr. Assange” vom Jänner 2013 vor, in dem sie die Zustellung eines Paketes an Julian Assange durch einen im Paket befindlichen GPS-Sender und Mobiltelefon-Fotografie live mitverfolgten und diese Information gleichzeitig online zur öffentlichen Beobachtung zur Verfügung stellten. Die in intensiven Arbeitstreffen aller beteiligten KünstlerInnen gemeinsam erarbeitete Ausstellung wird durch Workshops ergänzt, an dessen Ende die kontrollierte Sprengung von Festplatten (die einzig wirklich sichere Methode zur endgültigen Löschung digitaler Information) durch Sprengmeister Christian Lammer steht. Den Abschluss von WHAT REMAINS bildet eine Konzertperformance von Fränk Zimmer, der seine Installation als Instrument umfunktioniert.

 

 

 

1 Philip K. Dick, How to Build a Universe That Doesn’t Fall Apart Two Days Later. Vortrag, 1978; zitiert nach: http://downlode.org/Etext/how_to_build.html (Stand: 28.1.2015).

2 Damit ist eine soziale Struktur gemeint, die stark durch technische Tools und Gadgets geprägt ist. Technik beeinflusst so in entscheidendem Maß auch die Entwicklung einer Gesellschaft.

3 David Cronenberg, Consumed. New York: Scribner, 2014.

4 Ebd., S. 1.

5 Ebd., S. 2.

6 Allerdings auch damals schon unter Ausblendung der unangenehmen Wahrheit, dass das Internet eine militärische Entwicklung des Kalten Krieges war: „[…] das Internet war ihre Erfindung, dieses Zauberding, das wie ein Geruch noch in die letzten Winkel unseres Lebens dringt, das Einkaufen, die Hausarbeit, die Hausaufgaben und die Steuererklärung erledigt, unsere Energie verbraucht und unsere kostbare Zeit frisst. Und darum gibt es da keine Unschuld. Hat es nie gegeben. Das Internet ist aus Sünde geboren, aus der schlimmsten Sünde, die es gibt. Und während es gewachsen ist, hat es nie aufgehört, diesen bitterkalten Todeswunsch für den Planeten im Herzen zu tragen […]“. Thomas Pynchon, Bleeding Edge. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2014.

7 Howard Zinn, zitiert nach: http://www.goodreads.com/author/quotes/1899.Howard_Zinn (Stand: 28.1.2015).

8 Holman W. Jenkins Jr., Google and the Search for the Future. In: The Wall Street Journal, 14.8.2010; zitiert nach http://www.wsj.com/articles/SB10001424052748704901104575423294099527212(Stand: 28.1.2015).

9 Wilhelm Busch, Plisch und Plum (1882). In: Ders., Sämtliche Werke und eine Auswahl der Skizzen und Gemälde in zwei Bänden. Hrsg. v. Rolf Hochhut, Bertelsmann, o.A., Band 2, S. 490.

10 Der Anschlag auf die „Charlie Hebdo“ Redaktion in Paris und die ihm unmittelbar folgenden Ereignisse, analog zum amerikanischen Iconic Turn vom 11. September 2001.

11 R. Murray Schafer, The Tuning of the World. New York: Knopf, 1977.

12 Michael Sandel, Webchat. In: The Guardian, 24.10.2014, zitiert nach: http://www.theguardian.com/books/live/2014/oct/22/michael-sandel-webchat-what-money-cant-buy (Stand: 27.1.2015).