Watson's Ghost
Die Künstlerin und Forscherin Heather Dewey-Hagborg verortet sich zwischen den Kunstgattungen Bio Art, AI Art und Sound Art und entwickelt Objekte, Videos und Installationen als transdisziplinäre Werke, die sich an den Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft entfalten. Jene „biopolitische Kunstpraxis“ fokussiert eine Kunst, die selbst zur Forschung wird – Kunst als wissenschaftliche Methode. In audiovisuellen Installationen und mittels generativer Computertechnologien werden verschiedene Systeme in ihre kleinsten Bausteine zerlegt und neu angeordnet inszeniert, sei dies nun die Komplexität des Systems Sprache wie bei Netlingua (2003), oder wenn ein Virus dargestellt wird, wie bei Lovesick: The Transfection (2019). Die Situationen, die die Künstlerin für das Publikum entwirft, hinterfragen die Wahrnehmung von Menschen, Technologie und Umwelt und verkörpern Konzepte einer Welt, die durch die „Linse der Information betrachtet wird.“ So entwirft Dewey-Hagborg in manchen Werken das Bild eines Mikrokosmos‘, der sich nur den Sinnen der Besucher:innen offenbart und Schnittpunkte zwischen Kunst und Leben, Natürlichkeit und Künstlichkeit durch eine künstlerisch-forschende Methode untersucht. Wie die Künstlerin in einem Statement schreibt: Durch schöpferische Praxis im Medium des Lebens selbst zielt meine Arbeit darauf ab, die/den Betrachter:in in eine tiefe und komplexe Beziehung zur eigenen Biologie und zu einem viszeralen Verständnis der sozialen Auswirkungen neuer Technologien zu bringen.
Jener Ansatz einer Verflechtung von Kunst und Wissenschaft zeigt sich bereits in der Moderne, beispielsweise bei Werken der russischen Avantgarde. So untersuchte zum Beispiel Wassily Kandinsky in seinen ersten abstrakten Werken nicht nur die Wirkung von Farben und Formen, sondern vor allem ihre perzeptiven Qualitäten im Sinne wahrnehmungspsychologischer Experimente. Dabei wurde der menschliche Wahrnehmungsapparat zu einem Gegenstand der künstlerischen Untersuchung. Wahrnehmungsexperimente von optischen Reizen brachten die Künstler:innen zu einer Auseinandersetzung mit dem Makrokosmos des menschlichen Körpers bis zum damaligen Mikrokosmos – durch die Erfindung des Röntgenapparates, der erstmals den menschlichen Körper vollständig durchleuchtete. Die Verbindungslinien von Kunst und Wissenschaft lassen sich retrospektiv betrachtet wunderbar nachzeichnen, wie die Kunstwissenschaftlerin Sabine Flach bereits in ihrer Habilitationsschrift „Sensing Senses. Die WissensKünste der Avantgarden. Künstlerische Theorie und Praxis zwischen Wahrnehmungswissenschaft, Kunst und Medien" darlegte. Jene Ansätze zeigen sich immer noch deutlich in vielen Werken der Bio Art, so auch bei Dewey-Hagborg, die sich neueste technologische und molekularbiologische Methoden, Verfahren und Erkenntnisse als künstlerische Strategien aneignet. Dabei führt sie das phänomenologische Wahrnehmungsexperiment noch weiter, indem sie über die menschlichen Sinne wahrnehmbar hinaus die Offenlegung, Zerlegung und Inszenierung kleinster molekularer Strukturen des Menschlichen, die Welt „als das was wir wahrnehmen“, zur Diskussion stellt.
Im esc medien kunst labor wird das 2021 entwickelte Werk Watson's Ghost präsentiert. Es besteht aus zwei mittels 3D-Drucker gefertigten Objekten und einem holographischen Video, das per „Looking Glass“- Technologie gezeigt wird. Bei „Looking Glass“ handelt es sich um ein Open-Source-Projekt, bei dem eine 3D-Benutzeroberfläche entsprechend einer stereoskopischen Projektion entwickelt wurde.
Inhaltlich befasst sich die Installation – bestehend aus Video und Objekten – mit einer für die Künstlerin immer wieder sehr wesentlichen Fragestellung: „Wie viel kann ich aus einem Haar über einen Fremden erfahren?“ Bereits in der Installation Stranger Visions untersuchte Dewey-Hagborg von 2012 bis 2013, wie sich DNA-Proben, gesammelt im öffentlichen Raum wie beispielsweise von einem Zigarettenstummel, darstellen lassen, indem aus den gewonnenen DNA-Strängen mögliche Porträts der Menschen als 3D-Drucke aus der gefundenen DNA generiert wurden.
Watson's Ghost thematisiert DNA indes vielmehr noch als Inhalt des Kunstwerks, indem dieses Mal der „Entdecker“ des Doppelhelixmodells, der Molekularstruktur der DNA, James Dewey Watson, in den Mittelpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung rückt. Watson löste durch provokative Äußerungen immer wieder Kontroversen und heftige Kritik an seinen gesellschaftspolitischen Vorstellungen aus. Bereits 1997 sprach er sich in einem Interview mit der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“ für das Recht der Frau zur Abtreibung aus, wenn aus einer genetischen Analyse des Embryos hervorgehe, dass das ungeborene Kind homosexuell veranlagt sei. Rassistische Annahmen, die in der Eugenik begründet wurden, wie dass menschliche Eigenschaften wie Libido oder Intelligenz rein genetisch begründet seien, wurden von Watson immer wieder öffentlich zum Ausdruck gebracht.
Dem Titel der Installation folgend, befasst sich die Künstlerin mit dem „Geist“ des Molekularbiologen, was seine Tätigkeiten als Wissenschaftler ebenso umfasst, wie seine als äußerst problematisch zu betrachtenden Aussagen über die Bedeutung der DNA für den Menschen. Dabei beweist die Künstlerin über das Kunstwerk eine Antithese zu Watson, die sie an seiner Person exemplifiziert und über die Installation zum Ausdruck bringt. In einer Art „Triptychon“ computergenerierter, genetischer Porträts von Watson wird eine Vielzahl der möglichen Interpretationen des Aussehens von Watson dargestellt, die allein auf seiner DNA basieren und damit die tatsächliche Komplexität des Lebens verdeutlichen. In dieser Verbildlichung der DNA, die eine künstlerische Rekonstruktion bestimmter DNA-Stränge darstellt, wird das Kunstwerk zur ästhetisch wahrnehmbaren Antithese einer wissenschaftlichen Annahme.
[MA Elisabeth Passath]
Quellennachweis:
https://deweyhagborg.com/projects/watson-s-ghost
https://deweyhagborg.com/statement
https://de.wikipedia.org/wiki/James_Watson