Wüste der Wirklichkeiten, Sujet Flavia Mazzanti

Wüste der Wirklichkeiten

Essay von Heimo Ranzenbacher

Ein rhapsodischer Motivbogen zum Jahresprogramm 2023

 

Mit Wüste der Wirklichkeiten überschreibt das esc medien kunst labor den Programmentwurf für 2023. Damit sollen die für dieses Jahr geplanten Präsentationen, Entwicklungen und Theorie-Veranstaltungen konturiert und kommuniziert werden.

 

Der Titel zitiert eine Szene aus dem ersten Teil der Matrix-Quadrologie der Wachowskis aus dem Jahr 1999, in der zwei Realitäten miteinander konfrontiert werden. Die eine gleicht der, die das Publikum als die ihre erkennt, mit der es sich mehr oder weniger arrangiert hat; diese stellt der Film als ein allumfassendes Simulacrum, als die Matrix vor. Die andere Realität wird als die Wüste der Wirklichkeit apostrophiert. Diese Wüste der Wirklichkeit ist im Unterschied zur allgemeinen Erfahrungswirklichkeit eine apokalyptische Ruinenlandschaft. Dabei verweist die Szene zugleich auf die Simulation (durch den aus ihr heraus sich auftuenden Blick wird der Unterschied evident) und eine Realität, die beansprucht, wirklicher zu sein, indem sie erschüttert und durch die Vorstellung, diese Realität erleiden zu müssen, an den Körper als eine letztgültige Instanz der Erfahrung appelliert; eine Realität, die sich verwirklichte, wenn der Körper etwa durch Hunger, das Empfinden der Umgebungstemperatur etc. quasi initialisiert und sozial, etwa als Armut, sedimentiert. Nichts spricht dagegen, dahinter eine Simulation höherer Ordnung zu sehen; aber in jeder Hinsicht wahrnehmungsabhängig wäre fortwährende Überlagerung am Ende ohnehin nur durch den Tod zu beschließen. (Im Film Matrix kommt der Körper ins Spiel, als der Held Neo aus seinem uterinen Kokon, der ihn=seinen Körper am Leben hält, herausfällt, er hustet, nach Luft schnappt, kotzt.1)

 

Multiple Wirklichkeiten
Die Beschäftigung mit hypothetischen Umgebungen, Parallelwelten, Simulationen jeglicher Art hat Tradition2. In der bildenden Kunst erlebte sie in den 1990er Jahren eine Hochkonjunktur. Es waren v. a. die neuen Virtual und Augmented Reality-Systeme, die (denkbare) Substitution des natürlichen durch synthetischen Sinnesinput und die (extrapolierten) Möglichkeiten des Computers3, die für eine Verunsicherung in der Referenz auf das Reale (Stichwort: Agonie des Realen; Baudrillard) gesorgt und die Kunst herausgefordert hatten. Zugleich entwickelte sich eine massive Kritik der Massenmedien und der mediatisierten Gesellschaft, für die Jean Baudrillard – darin federführend –  eine allmähliche Angleichung von Realität an Fiktion, Original an Kopie (Wahres an Gelogenes) im Gefolge einer zunehmenden Referenzlosigkeit der Zeichen und Bilder prophezeite bzw. ausmachte.

 

Sich auf ein Thema einzulassen, das Wirklichkeit anspricht, und folglich auf den Dualismus Wirklichkeit/Fiktion bzw. Simulation, ist jedoch immer ein heikles Unterfangen.

 

Schon zwischen Realität und Wirklichkeit will unterschieden werden. (Während Realität von res = Sache sich herleitet und auf das dinglich Konkrete bezieht, referenziert Wirklichkeit auf Wirken, ein Wirkungsgefüge, das mit dem englischen Actuality gleichsam eine Steigerungsform hat.) Von gesteigerter Aktualität wäre in diesem Zusammenhang die Verschiebung der Probleme um die Wirklichkeit der Dinge, was etwas ist, hin zur Frage, wie es erscheint; denn mehr als noch vor Jahrzehnten, da (einem) die Welt auf den Bildschirmen erstmals als die zweite Natur erschien, schickt sich diese Natur mittlerweile an zur ersten Welt zu werden.

 

Gesetzt die Existenz einer Seele, lässt sich nach wie vor anhand der cartesischen Differenzierung zwischen Geist und Körper – zwischen res cogitans und res extensa – über die ontische Differenz zwischen der Domäne  des Geistes und der Domäne des Körpers philosophieren und so zwischen Subjekt und Leib als verschiedene Seinssphären unterscheiden. (Man erspart sich Probleme, wenn man von einer ontischen Identität ausgeht, ebenso wie man von einer Identität zwischen der Substanz Wasser und einer chemischen molekularen Struktur von Wasserstoff und Sauerstoff (H2O) ausgeht. Oder es mit Peirce hält, wonach real ist, was unabhängig von unserem Denken besteht.4) Und während radikale Konstruktivisten Wirklichkeit als bloßen Wunschtraum der Philosophen denunzieren und selbst als eine Art „Simulation“ deuten, die z.B. in dem Unterschied besteht zwischen dem, was das Auge erblickt und dem, was das Gehirn daraus zum Gesehenen macht5, irritieren die positiven, empirischen Wissenschaften durch theoretische Erwägungen einer parallelen Existenz von Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge, indem ein Multiversum angenommen wird.6

In seiner Vieldeutigkeit hat der Begriff Wirklichkeit selbst etwas von „Mannigfaltigkeit“;7 er ist schwer anders als im Plural zu verwenden, und ohne die näheren Umstände zu konturieren, wäre sein Gebrauch nur gewagt. Die Verwendung des Wortes Wirklichkeit führt zu Schluckauf und verlangt nachgerade nach einer Entschuldigung. (Die durch den oben skizzierten Abriss eines Spektrums hoffentlich als erledigt erkannt wird!)

 

Movens der Kunst
Für die Entwicklung ihrer Paradigmen der Zeitgenossenschaft verdankt die Kunst der Beschäftigung mit der Dualität Wirklichkeit/Fiktion bzw. Simulation v. a. im Kontext mit den Potentialen der Telekommunikationssysteme zweifellos eine ihrer wichtigsten Impulse. Ubiquität (die Möglichkeit, allzeit und simultan allerorts präsent zu sein), Entmaterialisierung (die Emanzipation von der materiellen Existenz der Objekte), Partizipation (Interaktivität), Mediatisierung (kommunikations- wie informationsmedieninduzierte Wahrnehmung bzw. Interpretation der „Wirklichkeit“), Vernetzung … sind nicht nur wiederkehrende Themen, sondern wurden in der strukturellen und methodischen Organisation von Kunst-„Werken“ und – mit der Ablösung des Linearen zugunsten des Generativen, Prozessualen, der Inklusion im Verhältnis zu Umraum und Öffentlichkeit als einem wesentlichen Paradigma – im Kunst-„Begriff“ selbst verwirklicht.8

 

Durch die Aneignung von Kultur-, heißt: gesellschaftliche Wirklichkeit stiftenden Technologien als Werkzeug hat sich (Medien-)Kunst – werktätig – automatisch in größerer Nähe zur gesellschaftlichen Mitte positioniert.  Diese Öffnung war jedoch vielfach noch von Emphase bestimmt. Selbst Richard Kriesche, eher einer von den überlegten Diagnostikern, assoziierte mit „On-Line“ einen „vernetzten ‚ekstatischen User‘, in dem ein generell neuer Ansatz einer digitalen Kunst zum Vorschein komme, die sich transsozial legitimiert, als sie sich auf eine Gesellschaft beruft, die erneut den Versuch unternimmt, den menschheitsgeschichtlichen  Traum von der Antizipation des Transzendenten, diesmal auf technologischer Grundlage, zu versuchen.“ Dieser Gesellschaft und dieser Kunst sei der magische Aspekt zentral.9 Rena Tangens, Stimme der Chancen auf Demokratisierung der Gesellschaft durch Kommunikationsnetzwerke, versprach sich eine neue Kultur der Kollaboration von einem „Mailbox-Netzwerk“ auf Basis „öffentlich allgemein zugänglicher Terminals“ und durch einen „lebendigen Organismus, der aus einer Vielzahl autonomer menschlicher Einzelwesen besteht, die in ihrer Gesamtheit das kollektive Wissen und Bewusstsein des Netzwerkes – die Matrix – bilden.“10

 

Emphase und Euphorie haben schon Berthold Brechts Radiotheorie aus den Jahren 1927-1932 bestimmt. Brecht war überzeugt, dass vermittels der Verwandlung des Rundfunks von einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat (der es ermöglichte, „den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen“) eine positive gesellschaftliche Veränderung anzuregen wäre. Im Nachhinein als weitsichtiger erwiesen hat sich die pessimistische Einschätzung der Dinge, die da kommen (H. G. Wells) im Themenkreis des Cyberpunk der 1980er Jahre – im Hinblick auf die totale Kommerzialisierung und Ökonomisierung des Netzes wie der Politik, auf den Verlust der physischen und sozialen Sicherheit der Individuen und den Einsatz von Hochtechnologie zur Überwachung und Manipulation der Bürger. „Gesehen“ wurde auch die Kriminalisierung des digitalen Raumes, weniger aber die Trivialisierung dieses einmal als essenziell für ein demokratisches System gehandelten Diskursraumes durch die Radikalisierung seiner Nutzer. (Von Stanislaw Lem kamen Bemerkungen zu einem Milieu der „Verblödung“.)   

 

Eine schier unüberschaubare Anzahl von Kunstwerken und -projekten – von den frühen Videokunst-Arbeiten bis hin zu den szenisch-immersiven Computer-Bildwelten, die durch den Einsatz genetischer Algorithmen den Anschein von Belebung haben – beschäftigt sich direkt und indirekt mit diesem Themenkomplex – mit digitalem, medialem Schein vs. konkrete Wirklichkeit (und deren Verschwimmen); mit virtueller, augmentierter Realität vs. sichtbarer Wirklichkeit (u.d.V.); mit Gleichzeitigkeit in Echtzeit vs. Dabeisein live  (u.d.V.); mit virtuellen/digitalen Extensionen des Körpers vs. robotischen Extensionen (u.d.V.); mit  Cyborg-Technologien vs. Cyborg-Metaphorik (u.d.V.) …

 

Warum aber jetzt, 2023, wieder in den Blick nehmen, was offenbar bereits ausgiebig durchdekliniert wurde?

 

Korrekturen und Relationen
Einerseits: Weil sich gerade jetzt in vielerlei und insbesondere technologischer Hinsicht verwirklicht, weil aktuell geworden ist (und Wirklichkeit zu werden den Anschein hat), was vormals spekulativ und extrapolierend, Hypothese und damit ein bloßer Vorschein war. Und, nicht zuletzt, auch schön – wie nur je mit theoretischem und philosophischem Ehrgeiz vorgetragene Ideen und Anschauungen als ein schönes, zuweilen auch wildes Denken, als poetisch und sexy wahrgenommen werden können. Mit „halluzinatorisch“ bezeichnete Umberto Eco den Zustand, in dem etwa die Rezeption Marshal McLuhans mehrheitlich erfolgte. (In einem Vergleich der Denkmuster des „Apokalyptikers“ Hans Sedlmayr mit jenen des „Integrierten“ McLuhan; der Begriff Halluzination wird heute übrigens von KI-Forschern auch für Fehler und die Erzeugung von faktischer Unwahrheit durch eine KI gebraucht.) Eco beschied beiden, Vertreter des Cogito interruptus zu sein, wobei er McLuhan immerhin einen „erregenden, übermütigen und ausgeflippten“ Duktus zugutehielt, zu verdanken einer „permanenten intellektuellen Erektion“.11

 

Andererseits: Die „Realität“ erweist sich als weit weniger sexy und (im doppelten Wortsinn) abenteuerlich, als selbst ihre Gefahren es noch im Modus der theoretischen Extrapolation waren. Digitale Infrastrukturen und vernetzte Technologien sind längst Alltag geworden, sie durchdringen nahezu sämtliche Lebensbereiche. Die Welt ist berechenbar, menschliche Körper und menschliches Handeln sind codierbar geworden. Bereitwillig werden Verantwortung und Kompetenzen Maschinen, die daraus lernen, überantwortet, deren Funktionsweisen – quasi im Gegenzug – sukzessive in unseren Körpern und unserem Bewusstsein ebenso wie in unseren sozialen Beziehungen wirksam werden.

 

Wer sich heute dazu verstiege, die „Wirklichkeit“ zum Beispiel der Klimakatastrophe auf ihre strukturelle (und damit auch diskursive) Integrität hin zu untersuchen, gar infrage zu stellen, fände sich umgehend in schlechter Gesellschaft wieder. Beim Ukraine-Krieg, wie noch in den 1990er Jahren sowohl bei den Golf- als auch Jugoslawien-Kriegen, die strategische Bedeutung der Medien und deren Rezeption unter dem Gesichtspunkt von Simulation und Simulakren hervorzukehren, wäre, da anachronistisch, eher unangemessen. Und noch bevor die ursprünglich den sogenannten Leitmedien als Quelle von Parallelwelten geltende Medienkritik je durch Realität falsifiziert werden konnte, wurde ihr die Bildung solcher Parallelwelten durch Soziale Medien vor Augen geführt. Mittlerweile konfrontiert uns der kommunikationstechnologische Fortschritt mit all seinen Verheißungen eines demokratischeren und freieren Lebens mit seinen ihm innewohnenden regressiven Momenten. Die Demokratisierung der Information hin zur Kommunikation leistet antidemokratischen Bewegungen Vorschub, während eine Reihe von „Leit- und Qualitätsmedien“ – vielleicht ihrem Überlebenskampf geschuldet und in Besinnung auf ihre Bedeutung als Vierte Gewalt – als Korrektiv einem liberaldemokratischen Widerstand durch Aufklärung zuzurechnen sind.

 

Im 20. Jahrhundert war die Rede von Künstlicher Intelligenz noch von anderen Vorstellungen bewegt, als z.B. Chat GPT heute in den Augen ihrer Nutzer:innen12 erscheint, als z.B. bei der Routenplanung im Navi, bei der Berechnung der Kompatibilität von Persönlichkeiten durch eine Dating-Plattform; von anderen Erfahrungen als jenen, die z.B. der Einstufung des Einsatzes von KI durch die Justiz in der EU als hochriskant und als Gefahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zugrunde liegen. Selbst Deep-Fake-Anwendungen sind unterdessen für den Hausgebrauch verfügbar.13 Entsprechend haben sich vormals mit KI verbundene Themen (wie sie etwa in der hochdifferenzierten Auseinandersetzung mit „Strategien des Scheins“14 kumulierten) von ihrem technophilosophischen Glamour hin zu Fragen der Technologiefolgeabschätzung mit konkreten Praxisbezügen verschoben. Weniger da, wo zweifellos Fortschritte verbucht werden, etwa bei der Entwicklung von Medikamenten, von Klimamodellen oder in der Wettervorhersage – aber an Matrix gemahnt die Digitalisierung hin und wieder durch Begleitsymptome, wie die handfeste Lebenswirklichkeit sie aufweist, wenn etwa Algorithmen kompromittiertes Trainingsmaterial oder weltanschauliche Dünkel ihrer Entwickler:innen perpetuieren. Eine neue Dimension dieser Prozesse wurde erreicht und gewinnt immer mehr an Brisanz, als man begann, Algorithmen ethisch-moralische Entscheidungen zuzubilligen, wenn sie über die Vergabe von Wohnungen, Krediten, Jobs, Versicherungen … bestimmen; wenn sie in Sozialen Medien zur Wahl- und Wählerbeeinflussung zum Einsatz kommen; wenn ethisch-moralisches Ermessen gefragt ist – sei es beim Autonomen Fahren, sei es im militärischen Kontext, wenn, wie geplant, die Autonomie von Drohnen die Entscheidung über Leben oder Tod von Menschen einschließt. 15

 

Bodenlosigkeit
Im jüngsten Vierteljahrhundert haben „Strategien des Scheins“ eine zunehmende Trivialisierung erlebt – sie sind alltäglicher, greifbarer geworden; die ursprünglich mit ihnen assoziierte rasante technologische Entwicklung wurde gewissermaßen von ihrer allgemeinen Verfügbarkeit eingeholt, fachsprachliche Ausblühungen mutieren zum gängigen Slang.

 

Nicht nur vollzieht sich die Verlagerung von (epistemischen) Betrachtungen hin zur Beobachtung der Dinge ohne die Stimmen von diskurstypischen Denker:innen16, wie sie für Betrachtungen, die ihrem Gegenstand voraus sind, maßgeblich waren –  Virtualität, Künstliche Intelligenz, Simulation, Fake sind abseits der sozial- bzw. geisteswissenschaftlichen Sphäre als realpolitische, gesellschaftlich relevante Problem- und Interessensfelder Themen in „aller Munde“ –, unterdessen haben sich auch die vormals primär technologisch charakterisierten Begriffe wirtschaftlichen, politisch-ideologischen Gegebenheiten anverwandelt, sie sind greifbarer geworden.

 

Dabei ist eine gewisse Hybridisierung (des Alltags) zu beobachten: Der Fake erhält in Form und Folge einer Angleichung an Lebenswirklichkeit Tiefe. „Falsche Tatsachen“ und die Verfahren ihrer Vorspiegelung auf unterschiedlichstem Niveau erfahren als gegeben Akzeptanz – vom Industriekäse und all dem anderen Fake Food bis zu den in Marketing und Werbung gängigen Projektionen zur vorgeblichen Nachhaltigkeit und Klimaneutralität in Produktion von Gütern und Dienstleistungen17, von Wirklichkeiten nach Art der künstlich erzeugten einer Lebensmittelknappheit zur Stützung der Preise durch Vernichtung von Lebensmitteln im industriellen Maßstab bis zu sozialen Wirklichkeiten, wie sie etwa im Zuge des Ukraine-Krieges durch eklatant steigende Heizkosten in Armut sedimentieren, während sie durch die Milliardengewinne der Energieversorger „falsifiziert“ werden18, von der Virtualisierung des Geldes (nicht nur durch Entkoppelung vom Goldwert in den 1970ern, sondern in Form von Kryptowährungen durch Datenmining), bis hin zu jenen Wirklichkeiten, die sich einer aufblühenden Desinformationsindustrie verdanken – einer, in der ein Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde, oder jener der sozialen Verwerfungen Großbritanniens im Gefolge des Brexit-Referendums – Wirklichkeiten, die es erlauben, dass Desinformation im industriellen Maßstab wächst und weltwirtschaftlich relevante Umsätze generiert, d.h. sich zu einem Wirtschaftszweig auswächst.19

Die Annahme, dass diese Hybridisierung aus der digitalen Sphäre ihren eigentlichen Schwung bezieht, ist naheliegend.

 

Längst synonymisiert die Masse an internetbasierten Gratisdiensten diese mit dem Internet selbst (als würde man zu den Fahrzeugen Straßen sagen), und die Häufigkeit der Inanspruchnahme und damit verbrachte Zeit künden von einer existenziellen Dimension: Pro MINUTE – die Daten sind etwas angejahrt – werden weltweit mehr als 200 Millionen E-Mails verschickt, mehr als 200 Stunden Videomaterial auf YouTube hochgeladen, mehr als halbe Million Tweets geschrieben, mehr als 400 neue Blogeinträge veröffentlicht, mehr als eine Viertelmillion Fotos auf Facebook hochgeladen, und Google verzeichnet (bei etwa 6 Milliarden Anfragen täglich) minütlich mehr als 4 Millionen Zugriffe. ChatGPT verbuchte nur zwei Monate nach dem Start rund 100 Millionen monatlich aktive Nutzer und ist damit die bis dato am schnellsten wachsende Verbraucheranwendung. TikTok brauchte noch neun Monate, um 100 Millionen Nutzer zu erreichen, Instagram zweieinhalb Jahre.20

 

Diese schiere Menge, das gigantische Ausmaß an Produktion, Distribution und Speicherung von Daten und Information entzieht der mentalen Bewältigung indes den Boden. Dialektik der Kommunikationsgesellschaft [M. Gottschlich]: Je größer die bloß akkumulativ und nicht integrativ wachsende Informationsmenge, desto geringer die Chance einer sinnvollen Verarbeitung. Je geringer aber die Chance sinnvoller Informationsverarbeitung, desto geringer wiederum die Chance auf rationale Urteilsbildung als Basis für privates wie auch öffentliches Entscheidungshandeln. Je geringer die Fähigkeit und Bereitschaft zum rationalen Urteil, desto größer die Versuchung und Bereitschaft, irrationalen Deutungsmustern zu folgen, etwa dem X eine parallele Existenz als U zuzugestehen.21 Sollte sich dieser Befund als ein gesamtgesellschaftlicher Zustand bewahrheiten, so wirken dagegen Verschwörungstheorien und daraus erwachsende demokratiepolitische Probleme wie eine Modeerscheinung.

 

Das oben skizzierte digitale Wimmelbild belegt die Verlagerung von Lebenszeit und -inhalten in die Sphäre des Digitalen so beeindruckend, dass die Rede von einer Parallelwelt durchaus angemessen erscheint (die einst populäre Vorstellung von einer KI, die sich in einem Akt spontaner Autokreation in den weltweit vernetzten Computern ins Leben ruft, dürfte sich indes als Fantasie erledigt haben). Darüber hinaus kündet es von einem blinden Vertrauen, das umso eigenartiger anmutet, als anzunehmen wäre, dass die Kenntnis von Data-Mining unterdessen zum Allgemeinwissen zählt: „Mit Ihrer Erlaubnis [!] geben Sie uns mehr Informationen über Sie, über Ihre Freunde, und wir können die Qualität unserer Suchvorgänge verbessern Sie brauchen überhaupt nicht zu tippen. Wir wissen, wo Sie sind. Wir wissen, wo Sie gewesen sind. Wir können mehr oder weniger wissen, worüber Sie nachdenken.“ Was Google-CEO Eric Schmidt 201022 noch als Zukunftsvision vorgestellt hat, ist unterdessen, Machine Learning sei Dank, Realität. Vollzogen wurde auch die Verwandlung der User: Dass für Gratis-Dienste mit persönlichen Daten bezahlt wird, heißt zugleich, dass man nicht Kunde ist, nicht Customer, nicht User, sondern das Produkt, das verkauft wird. Wie kommts, dass die halbe Menschheit, die sich, wenn es um ihre Daten geht, besorgt und misstrauisch gegenüber dem Staat gibt, aber zur Organisation ihres Alltags Termine im Google-Kalender einträgt, das persönliche Biotracking über Wearables in einem industriell ergiebigen Ausmaß zugänglich macht?

 

Metaphorik der Wüste
Im Hinblick auf die allgemeine Lebens- und Erfahrungswirklichkeit wirkt diese Matrix – oder handelt es sich dabei um eine Wüste?23 – wie eine Lowbrow-Variation über ihre frühen Entwürfe abzüglich ihres utopischen Potenzials. Dazu passen auch die populären, auf den wirtschaftlichen Gebrauchswert heruntergebrochenen Vorstellungen von Digitalisierung, wie Politiker:innen sie in ihren Äußerungen strapazieren, deren brachialer Charakter allem Hohn spricht, was je über den Digitalen Raum gedacht und geforscht wurde.

 

Mit dem aktuellen Blick auf ebenso politische wie technische Formate der Simulation fokussiert das Programm Wüste der Wirklichkeiten eine Umwelt, deren Digitalisierung eigene Gesetze, Gesetzmäßigkeiten, eine eigene Kultur ebenso wie konkrete Risiken und unverhoffte Nebenwirkungen hervorbringt. Zugleich stellt sich die Frage, ob nicht Lebens- und Erfahrungswirklichkeit bestimmende Umstände selbst Belege für das Leben in einer Matrix bieten, die sich zu einem Gutteil aus einem Aufmerksamkeitsdefizit, einem Blinden Fleck gegenüber „Realitäten und Wirklichkeiten“ speist, die nur indirekt wirksam werden.

 

Aus dieser Perspektive stellt sich wiederum die Frage, ob ein Leben, wie es (in Europa) weitgehend als real erfahren und im Glauben an die Möglichkeiten der Partizipation, Entscheidungsfreiheit, soziale Sicherheit, eine halbwegs intakte Umwelt, gesunde Lebensmittel etc. pp gelebt wird, nicht schon längst einer „Simulation“, einer Art Matrix geschuldet ist.

 

Mit dem Blick auf politische wie technische Formate der „Simulation“ im Licht der Gegenwart soll zugleich ein Blick auf eine Realität geworfen werden, die sich nicht als schierer Unterschied, sondern als Matrize jener Wüste zu erkennen gibt – in Gestalt der Folgen des Klimawandels, der Zerstörung riesiger Landflächen bei der Gewinnung von Rohstoffen, die Verschmutzung der Meere und Seen, von Grundwasser und Quellen … Ebenso wie in der Zerstörung der Natur hat das Ruinöse und Ruinierte seine Entsprechung in der Erosion sozialer und demokratiepolitischer Errungenschaften.

 

Die Metaphorik der Wüste erlaubt natürlich auch die Frage nach „Wasser“ und „Möglichkeiten der Bewässerung“. Denn – das besagen Erfahrung und das Prinzip Hoffnung – Wüsten können temporär und punktuell zum Blühen gebracht werden.

 

KUNST
In der Kunst hat die epistemische Betrachtung der Dinge eine experimentelle Praxis. Vorzug anderen Praxen gegenüber ist es, dass Kunst (ihrem allgemeinen Programm der Entgrenzung folgend) es erlaubt, sich abseits traditioneller und disziplinärer Zwänge versuchsweise und performativ einer Aktualität auszusetzen und daraus (aus der Performativität bzw. den Modi der Ausgesetztheit) – unabhängig von epistemischen Einsichten – ästhetische Erkenntnis zu lukrieren.

 

Der Blick durch die Kunst ist immer zugleich ein Blick auf die Kunst selbst, daher automatisch auch auf Konsequenzen für Selbstverständnis und Gestalt, die sie aus ihrem Gegenstand bezieht. Was wäre zu sehen?
Die Bewegung der Kunst hin zur „gesellschaftlichen Mitte“ – u. a. durch Gebrauch und Dekuvrierung, i.e. Auskundschaftung, Spiel, Manipulation, Verzerrung, Extrapolation … für Kunst und Gesellschaft gleichermaßen bedeutender Technologien (zu pointieren vielleicht als Verwirklichung der Kunst in der Realität) – setzt sich fort. Eine Beobachtung dazu betrifft etwa die sukzessive Auflösung der symbolischen Distanz zum Gegenstand zugunsten der affirmativen, konkreten Verwirklichung im Gegenstand; oder im lebenden Objekt, wie es z.B. für Biotech-Kunst charakteristisch ist. Kunst als chemischer, biologischen Wachstumsprozess, Kunst als Notat an der Börse, Kunst als geschäftlicher Prozess etc.24 Diese Radikalisierung einer Strategie, die ihre Vorläufer hat, hat vielleicht auch mit dem vermehrten Auftreten des:r langhin angekündigten Ingenieur-Künstler:in zu tun, mit den Avancen, die Kunst und Wissenschaft einander verstärkt machen. Eine andere Beobachtung, dass die Welt der Kunst in vielerlei Hinsicht selbst als ein „Kunstwerk“ entgegentritt, ist nicht neu, das damit angesprochene Abgrenzungsproblem erscheint unterdessen aber dringlicher als je zuvor. Heute mehr denn je stellt sich der Kunst die Frage, wie ihre programmatischen Entwicklungen (von der Entgrenzung bis hin zur „Auflösung im Realen“) in Einklang zu bringen sind mit dem Anspruch auf Bedeutung, die gewährt, nicht anderweitig ersetzt werden zu können.25

 

Eine These Vilém Flussers passt ins Konzept: Sie unterstellt der Kunst die Funktion, „andere Welten“ zu schaffen und den Zugang zu „anderen Wirklichkeiten“ zu ermöglichen. Die Produktion eines Kunstwerks bringe nicht nur einen Teil der lebensweltlichen Umstände und Erkenntnisse der Produzenten zum Ausdruck, sondern bewirke im dialogischen Kontakt mit den Beobachtern eine „Projektion anderer Wirklichkeiten“, worunter Flusser Kenntnisse, Erfahrungen, Empfindungen oder Wahrnehmungen fasst. Indem sich Kunst diesem Prozess verschreibt, werde die „Weltveränderung“, die Erweiterung der menschlichen Wirklichkeiten zu ihrem Anliegen. Inmitten der Gesellschaft erhält der dialogische Prozess als Operation im konsensuellen Bereich vor allem eine demokratiepolitische Qualität: Er vermag diesen Bereich auszuweiten und zur Entstehung neuer Konsensbereiche beizutragen; er initiiert eine Erweiterung von Erfahrungen, Wissen und Argumenten, was zu einer Änderung des Erkenntnishorizontes hinsichtlich der Wirklichkeitsbetrachtung führen kann.

 

Vielleicht gelingt es ja auch, vermittels Kunst der Wüstenbildung entgegenzuwirken.

 

1 Körper als Referenz des Realen. „Real ist, wogegen wir stoßen“, hat Vilém Flusser angemerkt, und ausgeführt, dass der Fuß, der spürbar an etwas stößt, zumindest glaubwürdiger als das Auge sei. Wenn das Reale schmerzt, erweist es sich als wirklicher als jene Wirklichkeit, die einem vor Augen geführt wird. Schmerz ist die Möglichkeit, etwas mit anderen Augen zu sehen. Es wird einem schmerzhaft vor Augen geführt, wirklich … (Dazu Christian Morgenstern: Der Meilenstein: Tief im dunklen Walde steht er / und auf ihm mit schwarzer Farbe, / daß des Wandrers Geist nicht darbe: / Dreiundzwanzig Kilometer. // Seltsam ist und schier zum Lachen, / daß es diesen Text nicht gibt, / wenn es keinem Blick beliebt, / ihn durch sich zu Text zu machen. // Und noch weiter vorgestellt: / Was wohl ist er - ungesehen? / Ein uns völlig fremd Geschehen. / Erst das Auge schafft die Welt.)

2 Das vielbemühte Höhlengleichnis Platons wäre dabei ebenso zu nennen wie Zenons Paradoxien der Vielheit (wonach eine als dynamisch sich verändernd wahrgenommene Welt nur die Illusion eines in Wirklichkeit unteilbaren, ewigen und unveränderlichen Seins sei), oder Lewis Carrolls Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln. (Und wenn Alice, dann auch Der andalusische Hund, Luis Buñuels und Salvador Dalis Film Un chien andalou, verstanden als Misstrauensvotum gegenüber der logischen Konsistenz der Realität.) Unter dem Eindruck der Entstehens der Informationstechnologie fand die Beschäftigung mit diesem Gegenstand in der Literatur der Nachmoderne ihren Niederschlag – exemplarisch vertreten durch Autoren wie Jorge Luis Borges (z.B. Tlön, Uqbar, Orbis Tertius; 1944), Philip K. Dick (z.B. Ubik; 1969), Stanislaw Lem (z.B. Summa technologiae; 1964) oder, jünger, William Gibson (z.B. Neuromancer; Trilogie 1984-88) und dem als Ideenlieferant für das Metaversum und als Avatar-Begriffsbildner mit der Goldenen Nica der Ars-Electronica prämierte, künstlerisch am wenigsten ergiebige Neal Stephenson (z.B. Snow Crash; 1992).

3 Im Jahr 1977 referierte Philip K. Dick seinen Verdacht (bzw. seine Überzeugung), in einer computerprogrammierten Wirklichkeit zu leben: Der einzige Hinweis darauf sei, „wenn eine Variable verändert wird und eine Änderung in unserer Wirklichkeit geschieht. Wir würden den überwältigenden Eindruck haben, die Gegenwart erneut zu erleben – Déjà-vu.“
-> Siehe dazu Nick Bostroms Simulationshypothese, vorgestellt 2003 in der Abhandlung Are you living in a computer simulation? Basierend auf drei Annahmen, wovon eine wahr sein müsse, schließt der schwedische Philosoph darauf, dass die Wahrscheinlichkeit, bereits in einer Simulation zu leben, etwas „geringer als 50 %“ sei.
-> Siehe dazu auch: Konrad Zuse: Rechnender Raum, Springer Fachmedien Wiesbaden, 1969. Das Universum verstanden als digitale Maschine.
-> Siehe dazu auch die Vorstellungen des „Physikers der Physiker“ John Archibald Wheeler etwa von einem „partizipatorischen Universum“, wonach das Universum […] erst durch die von uns [Menschen] gestellten Fragen und die Informationen in den zugehörigen Antworten Gestalt annimmt; oder „It from Bit“, Wheelers Formel, für die Möglichkeit, dass die materielle Welt, „It“ – jedes Teilchen, jedes Feld bzw. jede Kraft, sogar das Raumzeitkontinuum selbst – zur Gänze oder zumindest teilweise aus Information, „Bit“, bestehe. (Zit. aus Hans Christian von Baeyer, Das informative Universum – Das neue Weltbild der Physik. C.H.Beck, 2005)

4 Das gilt auch für Naturgesetze oder Gesetze der Logik, die sich dem Denken lediglich erschlossen haben. (Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, und/aber schon Denken erzeugt Fiktionen.)

5 Z.B. Heinz von Foerster: „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung.“

6 Nun, Sheldon Cooper erkennt (in einer Folge Big Bang Theorie) am Essen in der Uni-Mensa einen Beleg dafür, nicht in der Matrix zu leben: Es wäre sonst besser! Vielleicht ist aber der Umstand, dass ein Wort wie „sanktionieren“ kontextabhängig das Gegenteil bedeuten kann, ein Indiz für parallele Wirklichkeiten und die stellenweise Durchlässigkeit ihrer Grenzen. Welche Wirklichkeit wiederum Österreichs Innenminister bewohnt, die sich offenbar teilt in eine, darin Wissenschaft das eine ist, und in eine andere, in der die Fakten das andere sind, ist schwer zu eruieren, er dürfte sie jedoch mit vielen teilen, da ihm eine solche öffentlich bekundete Sichtweise nicht das Amt gekostet hat. (Der Standard; Interview mit Innenminister Gerhard Karner, ÖVP. 26. August 2022.)

7 Worunter Kant die Gesamtheit der Weltwahrnehmung eines Individuums durch die Sinne subsumierte.

8  Erinnert sei an prototypische Arbeiten und Projekte wie: Split Reality (Valie Export, 1970 – 73), oder Die Welt in 24 Stunden (Adrian X; 1982) oder Seins-Fiction (Gusztáv Hámos, 1980-81) oder The Third Hand (Stelarc, 1980 - und Folgeprojekte) oder The Threshold (Bill Viola, 1992) oder Piazza Virtuale (Ponton/Van Gogh TV, 1992) oder The Golden Calf (Jeffrey Show, 1994 ) oder TerraVision (ART+COM, 1994) oder Cartesianisches Chaos (Peter Weibel, 1992) oder Telerobotic Dolls (Lynn Hershman, 1995-98) oder Telematische Skulptur 4 (Richard Kriesche, 1995) oder Uirapuru (Eduardo Kac, 1999) oder Field-Work@Alsace (Masaki Fujihata, 2002) oder …

9 Richard Kriesche, One Line : Stand By, Vortrag im Rahmen des Symposiums On Line – Kunst im Netz, Graz 1993.

10  In Erinnerung dazu: Pierre Levy, L’intelligence collective. Pour une anthropologie du cyberspace, 1995 (dt. Die Kollektive Intelligenz – Eine Anthropologie des Cyberspace. Bollmann 1997)

11 Umberto Eco, Vom Cogito interruptus. In: Über Gott und die Welt, Hanser 1985. [In diese Zeit hinein und da auf gut aufbereiteten Boden fiel auch der populärwissenschaftliche Bestseller von Hans Morawec Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz (Verlag Hoffmann und Campe, 1990), in dem der Robotiker seiner Hypothese eines möglichen Uploads des menschlichen Gehirns in eine Maschine dargelegt hat. Eine Vorstellung, der die Neurowissenschaft inzwischen zu viel entgegenhält, um noch erwogen zu werden. (Immerhin: Unterdessen vermögen Schlaganfallpatienten oder gelähmte Personen mittels Brain-Computer-Interfaces  Körperbewegungen auszuführen, und es gelingt, gedachte Musik zu notieren oder andere robotische Tätigkeiten „per Gedankenkraft“ (auf Basis der Analyse von Gehirnmustern) zu steuern.]

12 /a Z.B. schloss Derrick de Kerckhofe im Jahr 2002 von der „rapiden Verbesserung der Suchmaschinen von den Anfängen mit Yahoo! zum heutigen Stand von Gurunet und Google“ auf „sprunghafte kognitive Fortschritte“ und meinte folglich: „Schon in absehbarer Zeit können wir mit MMDC (Mind-Machine-Direct-Connect)[…], einer direkten Mensch-Maschine-Verbindung rechnen, mit der man bereits, wenn man vor dem Bildschirm daran denkt, etwas aus den Tiefen der weltweiten Datenbanken abrufen und sogar durch bloßes Denken modifizieren und mit anderen teilen können wird. Ab einem gewissen Punkt wird man – abgesehen von der elektronischen bzw. organischen Quelle – nicht mehr viele Unterschiede zwischen DOs [digitalen Objekten] und MOs [mentalen Objekten] feststellen können. Von da an wird unser Denken sehr diszipliniert sein müssen, damit es uns nicht in eine Welt führt, die wir gar nicht wollen, denn die Materie wird dem durch Elektrizität verstärkten, erweiterten, simulierten und ausgeübten Denken immer weniger Widerstand entgegensetzen.“ [Hervorhebung durch d.Red.] Zit. aus Karin Bruns, Ramon Reichert (Hg.) Neue Medien – Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation, transcript 2007.

11/b Im März 2023 will der chinesische Konzern Baidu seinen Chatbot Ernie Bot und damit das von Huawei entwickelte Sprachmodell Wu Dao an den Start bringen. Wu Dao soll zehnmal so viele Parameter enthalten wie GPT-3, das als Grundlage für ChatGPT fungiert. Das Google-Sprachmodell LaMDA, ein Text-Generator, soll unter dem Namen Bard für die Google-Suche angepasst werden. In Deutschland entwickelt das Heidelberger Unternehmen Aleph Alpha eine Alternative. Es ist auch an der Entwicklung des europäischen KI-Sprachmodells OpenGPT- X beteiligt. (Quelle: RiffReporter) Leicht auszumalen, was geschieht, wenn solche Anwendungen von den Massen jener Geister, deren Treiben jetzt die Sozialen Medien stigmatisiert, in Beschlag genommen werden. Christoph Neuberger vom Berliner Weizenbaum-Institut warnt vor dem Einsatz von Chatbots in der öffentlichen politischen Diskussion: Würde den Menschen das eigenständige Denken zur Mitbestimmung abgenommen, wäre das für eine mündigen Demokratie eine Katastrophe.

13 Von 1996 bis 2008 war im Ars Electronica Museum in Linz der Cave in Betrieb; ein leistungsstarkes VR-, AR-System zur immersiven 3D-Visualisierung, das seine Leistung aus einem Onyx-Großrechner, groß wie ein Kleinwagen, bezog.  Zum Schluss lief das System auf einem Linux-PC-Cluster (Ars-Box), Interaktions- und Steuerungsmedium war ein handelsüblicher Tablet-PC.

14 Um ein richtungsweisendes Symposion 1990 und die titelgleiche Dokumentation der Vorträge zu nennen: Strategien des Scheins - Kunst, Computer, Medien; Boer Verlag 1991.

15 KI kommt sowohl bei autonomen Waffensystemen als auch der militärischen „Lagebeurteilung“ zum Einsatz: KI solle helfen, Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu bewerten, ebenso feindliche Angriffe, um dann, effizienter als je ein Mensch, Vergeltungsschläge einzuleiten und durchzuführen. Dabei sind Algorithmen engagiert, wie sie auf Grundlage von Reiseverhalten, Aktivitäten in sozialen Netzwerken oder Mobilfunkdaten Terroristen identifizieren sollen und auf diese Weise 2015 den Al Jazeera-Journalisten Ahmad Muaffaq Zaidan zum Topterroristen erklärt haben.

16  … Jean Baudrillard, Norbert Bolz, Judith Butler, Vilém Flusser, Donna Haraway, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Immanuel Kant, Friedrich Kittler, Jean-François Lyotard, Marshal McLuhan, Platon, Sadie Plant, Sandy Stone, Alan Turing … u. a., so ein zeit-typisches Line-up, auf das zu beziehen kaum eine Publikation, kaum ein Vortrag herumkam.

17  Greenwashing ist Teil einer, wenn man so will, „Illusionsindustrie“: z.B. werden Klimaneutral-Label mehrheitlich durch Zukauf von CO2-Zertifikalten (Kompensierung) erworben. Dadurch werden Label-Inhaber als etwas vorgespiegelt, das (wenn es wahr ist) allenfalls ein anderer ist. Aber anders als etwa die Behauptung, dass Milch Mut macht, deren Folgen sich in Grenzen halten, verzögert Greenwashing die Maßnahmen zur Rettung des Planeten, den zu retten es vorgibt. 42 Prozent aller von der europäischen Verbraucherzentrale untersuchten Nachhaltigkeitslabes wurden als falsch, übertrieben oder irreführend erkannt; Klimaneutral-Label erlaubten es z.B. Shell für Tankladungen und AUA für Flüge mit Klimaneutralität zu werben. Das New Climate Institut hat die veröffentlichten Klimapläne von 24 Großunternehmen evaluiert und 15 davon als völlig unglaubwürdig qualifiziert.

18 5,2 Milliarden hat der Österreichische Öl-, Gas- und Chemiekonzern OMV 2022 erwirtschaftet, ein Plus von 85 % gegenüber 2021. Einen gemeinsamen Jahresgewinn von knapp 200 Milliarden US-Dollar erwirtschafteten 2022 die „Big Five" der Energiekonzerne, Chevron, BP, Shell, TotalEnergies und ExxonMobil. Mit 91,1 Milliarden US-Dollar haben allein Exxon und Chevron mehr verdient, als alle größten amerikanischen und europäischen Ölkonzerne im Jahr zuvor zusammen. Die Unternehmen verdanken ihre Milliardengewinne Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine und einem deutlichen Minus an Investitionen in umweltschonende Projekte. Refinitiv/Storch Research Institute/ FOCUS online: https://www.focus.de/finanzen/oel-und-gasmultis-krise-befeuert-profite-v... (02-02-2023).

19 Um nur die in jüngster Zeit auffällig gewordenen Unternehmen zu nennen: Internet  Research Agency (IRA, Russland), Dark Matters (Vereinigte Arabische Emirate);  Cambridge Analytica (USA), Percepto (Israel), Team Jorge (Israel), Eliminalia (Spanien). Die im Dunkeln sieht man bekanntlich nicht.
Siehe dazu auch die Recherchen des Investigativ-Netzwerkes Forbidden Stories und seiner Partner-Medien ((u.a.) Der Standard, Spiegel, ZDF, Die Zeit, Washington Post, Guardian, Le Monde), wonach die israelische Firma Team Jorge im Auftrag von Politikern und reichen Privatpersonen weltweit hackt und manipuliert. Die Firma gibt zu, mit verdeckten Kampagnen in 33 nationale Wahlkämpfe und Referenden eingegriffen zu haben, angeblich in 27 Fällen "erfolgreich", vor allem in Afrika, Asien und Lateinamerika. Die Digitalsöldner um ihren Chef Tal Hanan alias "Jorge" waren auch für die berüchtigte, inzwischen aufgelöste Datenanalysefirma Cambridge Analytica tätig, die mit illegalen Methoden Einfluss auf das Brexit-Referendum 2016 und die US-Wahlen 2017 genommen hat.

20  https://www.reuters.com/technology/chatgpt-sets-record-fastest-growing-u...

21 Kognitive Dissonanz oder Neusprech-Realität? Vermutlich beides parallel. So ist es möglich, das Fazit des ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschusses, in dem der Verfahrensrichter explizit Korruption festgehalten hat, als Bestätigung dafür auszulegen, dass die Vorwürfe unbegründet waren (offenbar sind die Fakten das eine, wofür sie sprechen das andere ;-); ist es möglich, ein Produkt, bei dem eine Teilmenge von 5 Prozent nicht Bio-Kriterien entspricht, Bio zu nennen; ist es möglich, dass die WHO ihre Richtwerte für die gesundheitlich zumutbare Luftgüte niedriger ansetzt als etwa das österreichische Immissionsschutz-Gesetz Luft (IG-L); ist es möglich, dass Lebensmittel in einem Maß von Fremdstoffen durchsetzt oder durch Fremdstoffe ersetzt sein dürfen, dass vom regelmäßigen Genuss abgeraten wird; ist es (trotz Pflicht der Werbung, nicht die Unwahrheit zu behaupten; Wahrheit ist offenbar etwas anderes) möglich, dass Entlastung der Umwelt (durch Kauf eines bestimmten Produktes) nur eine geringe Belastung meint. Die berühmt-berüchtigte Feststellung Kellyanne Conways (zur Erinnerung: https://de.wikipedia.org/wiki/Alternative_Fakten), dass es sich bei ihrer, im Widerspruch zum Videomaterial stehenden Sicht der Dinge um „alternative Fakten“ handle, fiel – im Grunde – auf den sehr fruchtbaren Boden.
Und dass es nicht gelingen will, eine tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter ins Leben zu setzen, verdankt sich vermutlich ebenso der Gewohnheit, selbst mit widersprüchlichen „Wirklichkeiten“ als parallel kompatibel zu leben, wie der schleppende Fortschritt der Maßnahmen gegen den Klimawandel oder der ungebrochene Zuspruch einer Partei wie der FPÖ, die noch jedes Mal in Regierungsverantwortung (und auch anderweitig) bewiesen hat, dass sie dazu nicht taugt. Von Glaubenssystemen aller Art – Astrologiegläubigkeit, die auf Umweg gewählter Volksrepräsentanten ins Leben hineinregiert, die ganze Götter-, Propheten- und andere Abergläubigkeit als Basis politischer Systeme – gar nicht zu reden. Im Vergleich dazu ist der bedingungslose Glaube an Homöopathie nur eine Marotte. Kognitive Dissonanz härtet in Weltbildern aus, mit denen zu leben es zur Gewohnheit wird – so oder ähnlich.

22 „With your permission you give us more information about you, about your friends, and we can improve the quality of our searches [...] We don’t need you to type at all. We know where you are. We know where you’ve been. We can more or less know what you’re thinking about.“ Eric Schmidt in einem öffentlichen Interview im Rahmen des Second Annual Washington Ideas Forum, 2010.

23  Wenn es bestimmende Eigenart von Simulationen ist, dass man sich ihrer nicht sicher sein kann, dann ja oder nein :-)

24  An die Unsäglichkeit der Hervorbringungen der Fraktalen Kunst in den 1990er Jahren erinnern momentan noch die ersten KI-gestützten Gehversuche, in denen ein auffällig überkommenes Kunstbild Urständ feiert: Etwa im Biennale-Beitrag 2022 der KI-Roboterkünstlerin Ai-Da, deren Roboterin Kunstwerke (Malerei) produziert. Mit dem KI-Siegel erfährt das marktwirtschaftlich orientierte Kunstsystem eine willkommene Wiederbelebung klassischer ästhetischer Kategorien. Interessanter schon Refik Anadols Installation im MoMA N.Y., die mittels KI, die sich aus Werken der Sammlung des Museums speist, multimediale Formationen erstellt. Allerdings: Vor sich hin wallende Strukturen, wie sie zuvor nur der unsägliche Film Hinter dem Horizont (What Dreams May Come, 1998, Regie: Vincent Ward) zu ertragen aufgab.

25  Andererseits: Angesichts einer öffentlichen, veröffentlichten Wahrnehmung des „Falles Teichmeister“ als Skandal, der die Kunst tangiert, entbehren solche Fragen, wie sie sich seit dem von Hegel (1828/29) proklamierten „Ende der Kunst“ stellen, der Dringlichkeit.