Nichts als Konzentration

Nichts als Konzentration
Dienstag, 28. Februar 2017 - 14:00
[esc] medien kunst labor

Nichts als Konzentration

„Die durch moderne Technologien erzeugte Informationsflut droht deren Adressaten in Passivität versinken zu lassen. Eine Überfülle an Information ist nämlich kein nebensächliches Problem. Hilfreich ist hier John S. Browns Unterscheidung zwischen Information und Kommunikation. Große Mengen an Rohdaten bilden eine politische Tatsache. Die wachsenden Datenmengen führen zu einer Zentralisierung der Kontrolle. In der Kommunikation verringert sich dagegen die Informationsmenge durch die Interaktion der Menschen und ihre Interpretationen. Bearbeiten und Weglassen sind Verfahren, die eine Dezentralisierung der Kommunikation bewirken.“ [Richard Sennett1]

 

Laut Paul Virilio befinden wir uns aufgrund der Menge an zu decodierenden Informationen, die unser Fassungsvermögen heillos übersteigt, nicht mehr im „gegenwärtigen Moment“2. Es ist schwierig geworden, einen Denkprozess abzuschließen. Im Flimmern der Geschwindigkeit verschwinden die Einzelheiten der Welt.3 Je höher die Geschwindigkeit ist, desto ferner rückt der Horizont.

 

Der „rasende Stillstand“4 bedeutet die Steigerung von Beschleunigung – das Erreichen von Echtzeit dank der Übertragungstechnologien – und in der Folge eine neue Ohnmacht, eine totale Regression. Um nicht weiter „als Hybride von Pflanzen“ zu vegetieren, führen wir eine Art „‚Langsamkeit“‘ ein, indem wir einen kritischen Blick auf die Daten- und Informationsströme richten.

 

Welche Informationen erreichen uns? Was davon ist überflüssig? Wie lassen sich Organisationsstrukturen verändern? Welche Mechanismen wirken und wo lässt sich eine Schraube weiter drehen oder ein Programm anders einstellen, um diese um sich greifende Erschöpfung zukünftig vermeiden zu können? Wir werden zu Beobachter*innen der Welt und versuchen eine Alternative zu dem von Hartmut Rosa beschriebenen „Slippery-Slope-Phänomen“5 herauszubilden, demzufolge der Mensch sich nie ausruhen und sich nie zufriedengeben kann, da er sonst mit Verlusten oder Nachteilen rechnen müsste, und das uns gleichzeitig die Herrschaft unseres Lebens entzieht.

 

Weltwirtschaftliche Mechanismen haben uns als „politisches Subjekt“ fast jeder Einflussnahme beraubt. Die Illusion einer Selbstoptimierung steht der Bemühung um die Erfüllung der Grundbedürfnisse diametral gegenüber. Der Wunsch nach Stabilität, Sicherheit, etc. wird nicht mehr erfüllt. Die Prekarisierung hat sich über viele Bereiche ausgedehnt. Und dabei ist uns jenes Gegenüber, von dem es sich abzugrenzen gilt, mit dem es sich auseinanderzusetzen gilt, um eine Vorstellung anderer Lebensformen überhaupt erst auszubilden, abhanden gekommen. Wie gehen wir damit um, wenn es dieses „Andere“ nicht mehr gibt? Was können wir tun, wenn dieses Gegenüber sich nun als „globales Kapital“ erweist – wie es Thomas Piketty6 mit Blick auf das 21. Jahrhundert dargelegt hat? Ulrike Herrmann fordert die Imagination eines Transformationsprozesses, um das Bild einer postkapitalistischen Gesellschaft zu entwerfen.7

 

Die primäre Orientierung an Gesichtspunkten der Nutz- oder Verwertbarkeit, der Funktionalität, Effizienz und Zweckmäßigkeit als Beurteilungskriterien sind zu überwinden, um generell zu einer Klärung unserer Handlungsabsichten zu gelangen.

 

Paul Lafargues Bezeichnung des „Maschinenmenschen“8 aus dem 19. Jahrhundert und eine Abschaffung kapitalistischer Produktionsweisen wird erneut ins Gedächtnis gerufen: Die „kapitalistische Moral“ ist „eine jämmerliche Kopie der christlichen Moral, belegt das Fleisch des Arbeiters mit einem Fluch; ihr Ideal besteht darin, die Bedürfnisse des Produzenten auf das geringste Minimum zu drücken, seine Freude und seine Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, aus der man pausenlos und gnadenlos Arbeit herausschindet.“9 Lafargues Urteil war geleitet von einer Vorstellung von Glück, die in der vorindustriellen Zeit geprägt wurde sowie von der Ablehnung des Fortschritts- und Wachstumsgedankens. Er bezieht sich auch auf Vergil, indem er schreibt: Die Philosophen des Altertums lehrten die Verachtung der  Arbeit, diese Herabwürdigung des freien Menschen; die Dichter besangen die Faulheit, diese Gabe der Götter: Ein Gott schenkte uns diesen Müßiggang.10

 

Wenn Byung-Chul Han von der heutigen „Müdigkeitsgesellschaft“11 spricht, empfiehlt er uns eine Alternative zur Vita activa: nämlich die Vita contemplativa, in der das beschauliche Element eine zentrale Rolle spielt, denn nicht das aktive, sondern das kontemplative Leben mache den Menschen erst zu dem, was er zu sein hat. In einer post- bzw. alternativfaktischen Öffentlichkeit bedarf es einer Abkehr und Neustrukturierung. Als ideeller Statthalter der Einheit von Eros und Vernunft im Hier und Jetzt gilt Herbert Marcuse die Fantasie oder Imaginationskraft, wie sie sich in Kunst, Mythos und Utopie ausdrückt und dort, von gesellschaftlicher Wirksamkeit ausgeschlossen, bewahrt hat. Der Mensch macht also die Geschichte: Das bedeutet, er objektiviert und entfremdet sich darin. In diesem Sinne erscheint die Geschichte, die das reine Werk der Gesamttätigkeit aller Menschen ist, ihnen als fremde Macht, und zwar in dem Maße, in dem sie den Sinn ihrer Unternehmungen im gegenständlichen Gesamterlebnis nicht wiederkennen. „Macht bildet sich täglich durch unser Handeln“, jedoch anders, als wir sie zu erzeugen glauben, und verwandelt uns dadurch in andere als wir sein und werden wollten. Doch ist der Mensch vor allem durch das Überschreiten (s)einer Situation gekennzeichnet – durch das, was ihm aus dem zu machen gelingt, was aus ihm gemacht wurde. Jede gesellschaftliche Lage birgt schon den Ansatz zu ihrer Überwindung in sich.12

 

„Die Müdigkeit hat ein weites Herz.“13, schreibt Maurice Blanchot. Auf der Suche nach einem Handlungsraum, in dem wir die Möglichkeit haben, etwas zu tun, am Leben teilzunehmen, die Welt zu gestalten, gibt es diesen Moment der Ruhe, Reflexion und Analyse. Wir schaffen Platz – einen Zwischenbereich  – weder das Eine noch das Andere  – der die Absichtslosigkeit zu ihrem Recht kommen lässt.

 

Indem wir uns jetzt in bewusstem Innehalten üben, stellen wir einen Zustand her, der bereits Zukunft in sich trägt. Damit bedeutet eine Negation des Tuns nur eine scheinbare Untätigkeit. Um eine solche Qualität bemüht, stellen alle diesjährigen (Nicht-)Aktivitäten des esc medien kunst labor gleichzeitig ein Experiment dar, bieten Chancen, lassen (Tag-)Träume zu und stärken das „Prinzip Hoffnung“ [Ernst Bloch], das die Formulierung utopischer Strategien ermöglicht. Dabei wird der Müßiggang zum Handlungsziel: „Wir opfern unsere Muße, um Muße zu haben.“14

 

Vom „Stillstand“, der Stille hin zu Neuem, Unbekanntem  –  kontinuierlich, mit kontrollierter Geschwindigkeit, gestalten wir Übergänge und Reisen ohne vorbestimmtes Ziel oder verlorene Heimat, ganz im Sinne Rosi Braidottis, wonach posthumanistische Tendenzen seit den 1990er Jahren auf diese Weise gekennzeichnet sind. Dieses immersive Environment, das ein solches konterkulturelles Sprechen erlaubt, bietet eine Möglichkeit, das sich ständig „im Transit“ Befindliche aus dem Gravitationssog konventioneller Erwartungen und teleologischer Kräfte zu befreien. Die Möglichkeit, sich nach eigenen Vorstellungen zu bewegen, ist das Agens der Reise.15

 

Hier stehen wir und haben die Gelegenheit, den Kurs zu ändern. Das ist auch der Moment, in dem sich das Utopische in die Geschichte einschreibt.

 

Nicht nur das, was wir uns vorstellen, ist dabei jedoch bezeichnend für uns selbst, sondern insbesondere auch das, was wir uns nicht vorstellen können. So hat Slavoj Žižek vor kurzem bemerkt, dass „westliche Gesellschaften noch in den 70er Jahren lebhaft über ihre zukünftige politische Form diskutierten (Kapitalismus? Sozialismus? Dritter Weg?), während sie seither nur noch verschiedene Szenarien ökologischer Katastrophen gegeneinander abwägen“. Etwas Ähnliches kann man in Bezug auf die Utopie des Müßiggangs feststellen: Während frühere, hart arbeitende Generationen im Bild befreiter, genießender Enkel noch ein Ziel ihrer Plage vor Augen hatten, ist uns in der Panik um Arbeitsplatz und private Pensionsvorsorge selbst die Idee des Nichtstuns unerträglich geworden.

Der Philosoph Robert Pfaller führte in einem Vortrag anlässlich eines Symposiums zum Thema „Utopisches und Apokalyptisches“ aus: „Von Utopien und Apokalypsen gilt, was der Philosoph Spinoza generell über Einbildungen feststellte: Die Einbildung ist eine Vorstellung, die mehr über die vorstellende Person als über den vorgestellten Gegenstand aussagt. Gerade das, was wir uns als ferne Lösungen der Probleme des wirklichen Lebens oder als nahe Untergänge ebendieses Lebens ausmalen, sagt darum mehr über dieses Leben selbst aus als über irgendetwas anderes.

 

Für die Philosophie ebenso wie für die Kunst ergibt sich aus dieser Lage eine doppelte Aufgabe: Einerseits die Kritik – und zwar nicht nur der herrschenden Vorstellungen, sondern vor allem der herrschenden Abwesenheit bestimmter Vorstellungen; die Entlarvung nicht nur der Träume, sondern vor allem jener ‚realistisch‘  anmutenden Einbildungen, die gänzlich ohne Idee auszukommen scheinen. Und andererseits die närrische Clownerie bzw. der schurkenhafte Sarkasmus: Das Einnehmen eines unmöglichen Standpunktes; das Formulieren einer Idee, die nicht nur wenig wahrscheinlich, sondern noch nicht einmal ein schöner Traum ist.“

 

 

NICHTS ALS KONZENTRATION – Angaben zu den zitierten Texten:

  1. Sennett, Richard: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin, 2005, S. 136.
  2.  Virilio, Paul: But the writer Octavio Paz said it before: ‚you cannot live in the present moment, just as you cannot live in the future‘, in: http://www.lemonde.fr/idees/article/2009/02/27/le-krach-actuel-represent....
  3.  Virilio, Paul: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 52. Siehe auch Virilio, Paul: Der negative Horizont, Frankfurt am Main, 1989. und Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens, Berlin, 1986.
  4.  Vgl. Virilio, Paul: Rasender Stillstand. Essays, Frankfurt am Main, Erstausgabe 1992.
  5.  Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main, 2005. Siehe auch Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Frankfurt am Main, 2013.
  6. Piketty, Thomas: Capital in the Twenty-First Century, Cambridge MA/London 2014, S. 83 ff.
  7.  zit. n. Herrmann, Ulrike: Was kommt nach dem Kapitalismus?, Podiumsdiskussion mit Ulrike Herrmann, PD Dr. Ralf Ptak, Harald Bender. Moderation: Norbert Bernholt, Solidarische Ökonomie, 11.09.2016. Siehe auch Ulrike Herrmann: „Ausblick: Der Untergang des Kapitals“, in .: Der Sieg des Kapitals, München 2015, S. 239 ff.
  8.  Vgl. Lafargue, Paul: Das Recht auf Faulheit, Hamburg, 2014. (Erstausgabe 1887), S. 29.
  9.  Vgl. ebd.
  10.  Vgl. ebd.
  11.  Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin, 2010, S. 39 f.
  12.  Sartre, Jean-Paul: Marxismus und Existentialismus, Reinbek, 1964, S. 72 f.
  13.  zit. n. Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin, 2010, S. 56.
  14.  Aristoteles: Nikomachische Ethik, Reinbek, 2006, S. 346.
  15.  Vgl. Guertin, Carolyn: Queere Hybriden. Kosmopolitismus und verkörperte Kunst, http://90.146.8.18/de/archives/festival_archive/festival_catalogs/festiv....