Hylē
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Die in Berlin lebende Medienkünstlerin Theresa Schubert entwickelt Installationen, deren Ästhetik sich zwischen Alchemie und Science-Fiction entfaltet. Dabei befasst sich die Künstlerin in erster Linie mit dem Anthropozentrismus, Tierethik und Transspezies. Der Begriff „Transspezies“ bezieht sich nicht wie „Transgender“ auf Diffusionen zwischen den sozialen Geschlechtern, sondern geht über die Grenzen des Menschseins hinaus. Die betroffenen Menschen identifizieren sich also nicht mit der Spezies Mensch, sondern mit einer anderen Spezies – in der Regel handelt es sich hierbei um unterschiedliche Tier- oder Fabelwesen. Schuberts technoid wirkende Installationen fokussieren das Organische in all seinen Facetten.
Unkonventionelle Visionen von Natur, Technologie und Menschsein werden dabei erforscht. In ihrer künstlerischen Praxis verbindet Schubert „audiovisuelle und hybride Medien zu konzeptuellen und immersiven Installationen oder Performances.“ Organische Materie, lebende Organismen, Algorithmen und künstliche Intelligenz werden nicht nur in den Installationen als Elemente angewandt, sondern agieren als tatsächliche Mitschöpfer der Werke. Dazu gehören organische Materie und lebende Organismen, Algorithmen und künstliche Intelligenz, die nicht nur als materielle, sondern auch als Mitschöpfer Teil des Kunstwerks werden. Darüber hinaus arbeitet die Künstlerin mit immersiven Videoumgebungen und 3D-Laserscanning, um Wahrnehmungsweisen in Frage zu stellen und die Mensch-Maschine-Beziehung zu hinterfragen.
Die bio-kybernetische Installation Hylē wurde 2022 in Zusammenarbeit mit Ivan Taranin realisiert. Die Installation besteht aus audiovisuellen Elementen und Objekten. Die projizierte Mehrkanal-Videoumgebung zeigt 3D-Laserscans eines Waldes und des Inneren einer Serverfarm. Bei den grün leuchtenden Objekten handelt es sich um Algenbioreaktoren, die durch Luftsensoren direkt mit der Umwelt verbunden sind. Durch das Atmen in eine Trichtervorrichtung werden zwei Aspekte der Installation beeinflusst: Im ersten Schritt wird die mit CO2 angereicherte Luft von einem Sensor gemessen, bevor sie in die Bioreaktoren gepumpt wird. Diese Sensorsignale lösen in Echtzeit Störungen und Abstraktionen in den gescannten Videoumgebungen und der Klangsynthese aus. Zweitens benötigen die Algen CO2 zur Photosynthese und setzen in diesem Prozess Sauerstoff frei, der in die Luft des Ausstellungsraums zurückgeführt wird, wodurch eine Rückkopplung zwischen dem Atem der Besucher:innen, den Algen und den audiovisuellen Sphären entsteht.
Die grün leuchtenden Glasgefäße sind also Lebensraum für Algen, eine „Ur-Suppe“, wie die Künstlerin den Inhalt der Röhren bezeichnet. Die Projektionen der Wald- und Rechenzentrumsinfrastruktur verkörpern zudem zwei sehr wesentliche Aspekte unseres Lebens – Natur und Technologie als Netzwerke. Theresa Schubert über die Installation: „Wald und Serverfarm sind beide lebenswichtig für das moderne Leben des Menschen. Wälder reinigen Luft und Wasser. Sie sind auch ein Lebensraum für mehrere Arten und mildern den Klimawandel ab. Auf der anderen Seite repräsentieren Serverfarmen unser digitales Leben. Sie sind die übersehenen Architekturen des Anthropozäns. Als Infrastruktur unserer Netzwerke geben sie unseren digitalen Daten eine physische Präsenz und machen uns bewusst, dass digitales Leben die Welt beeinflusst, indem es Ressourcen nutzt und zum Klimawandel beiträgt.“ Zwischen Abstraktionen und deutlichen Figuren erschaffen die immersiven Projektionen das Bild einer illusorischen Welt. Im esc medien kunst labor sind die Projektionen auf Monitoren zu sehen.
„Hylē“ (altgriechisch ὕλη hylē, deutsch „Holz“ im Sinne von Rohstoff, Stoff, Materie) begegnet uns in der aristotelischen Physik und Metaphysik. Dort ist damit die formbare Materie, das Material, der Urstoff gemeint, der durch technē (also die menschliche Arbeit) eine Gestalt annimmt. Schubert: „Zwischen Beobachtung, Meditation, Materialexperiment und spielerischer Interaktion generiert die Installation Hylē eine durch Algen gefilterte Erzählung über Mikroprozesse, [...]. Die Arbeit agiert als visuelle Metapher, die Netzwerkdynamiken untersucht. Durch unsere Interaktion mit einer lebenden biologischen Skulptur wird in Echtzeit die Umgebung moduliert und sichtbar gemacht.“
Die Installation setzt dem Netzwerk einer Serverfarm das Netz des Waldes (heute wissen wir, dass Bäume wie ein Netzwerk miteinander verbunden sind) gegenüber. Die kanadische Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard von der Universität British Columbia hat als erste nachgewiesen, dass Bäume in einem Wald über ein „Wood Wide Web“ miteinander verbunden sind. Mit radioaktivem Kohlenstoff wies Simard nach, dass Bäume durch die Wurzeln und die Fäden der Mykorrhiza-Pilze Nährstoffe und Informationen quer durch den Wald austauschen. Fehlen einem Baum Nährstoffe, versorgen ihn die anderen Bäume. Die Wissenschaftlerin konnte auch nachweisen, dass sogar Bäume unterschiedlicher Arten sich gegenseitig versorgen. Grundlage für dieses Verhalten ist der ständige Austausch der Bäume mit Pilzen, den Mykorrhiza. Jeder Baum lebt in enger Verbundenheit mit diesen Pilzen, die über ein feines Wurzelgeflecht den Baum mit schwer erschließbaren Nährstoffen aus dem Boden versorgen. Der Baum gibt den Pilzen dafür Zucker, den die Pilze selbst nicht bilden können. Die beiden Lebewesen kommunizieren über die Wurzelfäden miteinander und informieren sich gegenseitig über die notwendigen Stoffe.
Die Besucher:innen im esc medien kunst labor nehmen an der interaktiv konzipierten Installation Hylē teil und erfahren dabei ihre eigene Existenz im Raum als Teil eines natürlichen und künstlichen Netzwerks. Die immersive Umgebung wird durch die Besucher:innen beeinflusst, umgekehrt ermöglicht es die Installation, den eigenen sensorischen Zustand wahrzunehmen. Ausgehend vom aristotelischen Konzept „Hylē“ untersucht Schubert also die Vernetzung von Präsenz und Rückkopplung von verschiedenen Aktionen: In einer Infragestellung des Anthropozentrismus ermöglicht uns Schubert Sinneserfahrungen, die zwischen Realität und Traumsequenz changieren; zugleich werden mikrokosmische Netzwerke sichtbar gemacht. „Zu Beginn des Projekts haben wir versucht uns vorzustellen, wie es aussehen oder klingen könnte, wenn nicht-neuronale Lebewesen wie Pflanzen oder Algen träumen könnten“, so die Künstlerin. Im erträumten Mikrokosmos von Algen erfahren wir, welchen unmittelbaren Einfluss wir auf unsere Umwelt ausüben.
Im Ein- und Ausatmen sind wir integrierender Teil von Theresa Schuberts Installation Hylē; Karles projiziert in den Darstellungen feinster Muskelstränge das Innere als tragbare Kleider nach außen; Ichihara referenziert vermittels Nahrung auf den Mikrokosmos des menschlichen Körpers in Zeiten der Umweltkatastrophen. Der menschliche Körper rückt damit als Verhandlungsfläche ins Zentrum der Sommerausstellung des esc medien kunst labor. Der Mensch – repräsentiert durch seine kleinsten In- und Outputs (das Atmen); – repräsentiert durch die mikroskopischen Strukturen seiner Organe; – repräsentiert durch seine sozialen Rituale, das gemeinsamen Speisen.
[Elisabeth Passath]
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Koproduktion:
Audiovisuelle Programmierung: Ivan Taranin
Sensor Programmierung: Sarah Grant
Hylē wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Deutschland und Neustart Kultur kofinanziert. Hylē wurde ursprünglich als "ooze" von der Laboratoria Art & Science Foundation in Auftrag gegeben.