HOMO HOMINI LUDUS

Von Spielen und Menschen
esc medien kunst labor Lisz Hirn

HOMO HOMINI LUDUS

Was steht auf dem Spiel, wer spielt mit „uns“, wer spielt mit, welche Rolle spielt die Kunst, welchen Regeln gehorcht sie? Und was ist überhaupt ein Spiel?

Die Herausforderung beginnt schon beim Versuch einer Definition. Was haben Brettspiele, Ballspiele, das Liebesspiel, das Theaterspiel und das Kriegsspiel miteinander  gemein? Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schreibt dazu in seinen Philosophischen Untersuchungen: „Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir “Spiele“ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: “Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht „Spiele“ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!… Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen. Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen.“ Das Ergebnis von Wittgensteins Betrachtung lautet: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Spiele haben Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.

Das mag uns eingängig scheinen, sie bestätigt unser Vorurteil das Spielerische als Gegenpol zur instrumentellen Vernunft zu sehen, als Antipode zum Zweckrationalen, zum Ernst des Lebens. In seinem Werk „Homo ludens“ skizziert Johan Huizinga den Menschen anhand seiner spielerischen Natur: „Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.“ Ein Spieler, der sich den Regeln widersetzt oder sich entzieht, ist ein Spielverderber: egal, ob in der Disco, am Spielfeld oder im Büro. Und: er ist wesentlich anders als der Falschspieler. Letzterer tut noch so, als gehöre er dem Spiel an. Der Spielverderber hingegen zerstört die Zauberwelt, spielt nicht „ernsthaft“, als ob es um etwas ginge. Aber um was geht es denn?

 

Was passiert also während eines Spiels?

Wir spielen und wissen, daß wir spielen, also sind wir mehr als bloß vernünftige Wesen, denn das Spiel ist unvernünftig.“ Ist diese Beobachtung von Johan Huizinga richtig oder hat unsere Zeit sie widerlegt? Während eines Spiels können die Grenzen zwischen spielerischer Leichtigkeit und ehrgeizigem Siegeswillen verschwimmen. Die Emotionen kochen hoch, Ehrgeiz, sich keine Blöße geben, gewinnen wollen - und dann verliert man, ist enttäuscht und schämt sich dafür, dass man dem Gewinner nur ungern gratuliert. „Es ist doch nur ein Spiel!“, hört man dann. Aber was bedeutet diese Aussage eigentlich? Welche Intention steckt hinter diesem scheinbar so trivialen Satz? Zeit, einen kurzen Blick in eine weitere philosophische Theorie zu werden, der Sprechakttheorie. Sie sieht einen Schlüssel zum Verständnis darin, dass die Bedeutung einer Aussage über ihre bloße Wörtlichkeit hinausgeht. Lokutionär mag „Es ist doch nur ein Spiel!“ ein banaler Hinweis sein. Illokutionär sieht die Sache anders aus. Welche Absicht steht hinter dieser Aussage? Was bezweckt der Sprecher? Möchte er den Spieler ermahnen, dass Sieg und Niederlage nur auf das Spiel begrenzt sind? Möchte er die durch das Spiel entstandene zwischenmenschliche Anspannung abkühlen? Positioniert er sich mit dieser Aussage, nicht nur über die anderen Spieler, in dem er sie an die Wirklichkeit gemahnt, in der das Spiel nur einen begrenzten Raum einnimmt? Ob ein illokutionärer Sprechakte glückt, ist auch davon abhängig, ob die Bedingungen für seine Ausführung erfüllt sind, darauf wies schon der Begründer der Sprechakttheorie J.L. Austin hin. In unserem Fall wäre wohl eine Bedingung, dass die Spieler zwischen Spiel und Realität, zwischen dem Homo sapiens sapiens und dem Homo ludens unterscheiden können.

 

Oder doch nicht?

Die heutige Gamification aller Lebensbereiche stellt diese Bedingung auf die Probe. KI-Systeme schaffen neue Realitäten in einer materiell wirksamen Virtualität. Es läuft alles auf eine Umwelt hinaus, in der Regeln wirksam werden, wie sie lange nur für Spielewelten und -erzählungen charakteristisch waren. Sie zeitigen nicht nur politisch bedenkliche, sondern auch psychodynamische, heißt psychiatrisch relevante Folgen. Auch das Spiel kann zum bitteren Ernst werden, nicht nur beim Mensch-ärgere Dich-nicht oder beim Liebesspiel. Auch die gezielte und verschleierte Ausbeutung von Spiele spielenden Spielern wird zunehmend zum Problem, liebe anwesenden Candy-Crusher oder Duolinguo-Adepten, das betrifft zum Beispiel euch. Apps, die versprechen, jegliche Lehrinhalte ausschließlich mit Fun und Game zu vermitteln, bewegen sich hart an der Grenze von Spiel und Ernst. Ob es deshalb ist, weil das Spielerische, Imaginäre, Illusionäre leichter verfügbar oder die Realität immer schwerer verständlich ist, bleibt offen. Die Auffassung, dass das Spiel Nicht-Ernst und Nicht-Arbeit bedeutet, ist ins Wanken geraten. Ob Global Player oder Krypto-Gamer: Wenn alles zum Spiel wird, gibt es dann noch Platz für Ernst? Wissen wir noch, wann wir spielen? Oder wenn man mit uns spielt? Oder sind wir eh schon endgültig zum Spiel anderer geworden?

 

Apropos andere: Homo homini ludus?

Ist der Mensch nicht immer schon das Spiel des Menschen? Wo bewiese sich das besser als in der Politik, auf der politischen Bühne - aber auch auf den Theaterbühnen dieser Welt. Erving Goffman geht in seinem Werk „Wir alle spielen Theater“ sogar von der Hypothese aus, dass das Individuum, wenn es sich Anderen präsentiert, daran interessiert ist, den Eindruck, den sie von ihm haben, zu kontrollieren. „Natürlich ist nicht die ganze Welt eine Bühne, aber die entscheidenden Punkte, in denen sie es nicht ist, sind nicht leicht zu finden.“ Authentizität? Fehlanzeige! Den Unterschied zwischen Bühne und Leben sieht Goffman so: Auf der Bühne werden Dinge vorgetäuscht, im Leben hingegen werden höchstwahrscheinlich Dinge dargestellt, die echt, dabei aber nur unzureichend erprobt sind. Der überzeugendste Schau-Spieler ist der, der an die von ihm gespielte Lüge glaubt. Manchmal holt auch die Realität das Spiel ein. So passiert 1673. Da schlüpft der todkranke Schauspieler und Dramatiker Molière in das Kostüm des “Eingebildeten Kranken” und begeistert die Zuschauer mit seiner grandiosen Komödie über einen Hypochonder und die ärztliche Quacksalberei. “Ach was, Molière! Das ist ein unverschämter Bursche. Wenn ich Arzt wäre, ich würde an dem frechen Kerl Rache nehmen, und wenn er krank würde, dann ließe ich ihn ohne Hilfe sterben”, spottete er im dritten Akt noch über sich selbst. Kurz darauf bricht er zusammen und stirbt wenig später. Aus dem Spiel des homo ludens kann also jederzeit Ernst werden. Der ultimative Spielverderber bleibt immer der Tod.