Jahresthema
Laufzeit:
Wir schreiben das Jahr 2020.
Künstliche Intelligenz, Künstliches Leben, Gentechnologie, Robotik und Prothetik mögen noch immer als Zukunftstechnologien für Cyborgs gelten. Sie sind jedoch reale Gegenwart und in dieser gerade dort am mächtigsten, wo sie sich unserer Wahrnehmung weitgehend entziehen. Die Chimären der Biotechnologie sind weder löwen- noch schlangenköpfig; in Laboren geboren, stehen sie im Dienst der Forschung und der Transplantationsmedizin. Roboter bauen nicht nur Maschinen,sondern lernen auch zum Bespiel Alte und Kranke zu pflegen. Smarte Prothesen arbeiten mit Biosensoren und schließen direkt ans Nervensystem an. Während uns Maschinenwesen wie Samantha („Her“), Sonny („I, Robot“) und Ava („Ex Machina“) auf der Leinwand noch als menschliche Imagination beeindrucken, benötigen die Algorithmen, die uns im Alltag beherrschen, keine menschliche Gestalt. Gerade deshalb schenken wir ihnen sogar umso leichter unser Vertrauen: wir verwechseln sie mit Gegenständen, die wir noch beherrschen und ganz nach Belieben gebrauchen können. Dabei bräuchten wir doch nur etwas genauer dem Sinn der Worte nachlauschen, die wir selbst gewählt haben: Damit die Maschinen uns dienen, müssen wir sie bedienen. Und wir geben dabei nur zu gern die Verantwortung, unsere Entscheidungs- und unsere Handlungsfähigkeit an Geräte und Systeme ab, die an unserer Stelle „smart“ und „intelligent“ sein, „smart“ und „intelligent“ agieren sollen.
Digitale, vernetzte Technologien gehören längst zu unserem täglichen Leben. Auch weit über die sogenannte Bildschirmzeit hinaus. Das meint nicht nur den unruhigen Schlaf, den jene schlafen, die zuvor noch auf die Displays ihrer digitalen Geräte geschaut haben und auch nach dem Abschalten nicht abschalten können. Das tiefe Summen der Server-Stacks, die sich in den Datencentern reihen, mag für die meisten von uns unhörbar sein, die nie versiegenden Datenströme mögen unsichtbar bleiben. Und doch ist es längst dieser Puls, der unser Leben bestimmt. Bereitwillig haben wir die Steuerung an Systeme abgegeben, deren Einfluss sich damit tief in unsere Körper und in unser Bewusstsein, in unsere Vitalfunktionen ebenso wie in unsere sozialen Beziehungen hinein erstreckt.
Es sind in der Tat vor allem die digitalen Alltagstechnologien und die Steuerungssysteme, in die sie eingebettet sind, die uns zu Cyborgs machen. Nach wie vor geht es dabei um die drei C, die Donna Haraway bereits 1985 in ihrem „Manifesto for Cyborgs“ benannte: Command – Control – Communication, ins Werk gesetzt, implementiert und zugleich potenziert durch zwei weitere C: Code und Computation. Die Berechenbarkeit der Welt scheint allumfassend. Die Grundlage hierfür ist die Übersetzung und Erfassung von Allem und Allen in Form von Daten: Nichts und niemand kann ihr entgehen. „Resistance is futile – Widerstand ist zwecklos“, wie es die Borgs in Star Trek formulieren. Und von Widerstand kann ja auch gar keine Rede sein.
Im Gegenteil: Nach wie vor streben wir danach, uns immer enger mit Systemen zu verschalten, die unsere Arbeit effizienter, unser Wirtschaften einträglicher, unsere Kommunikation besser, unser Leben bequemer zu machen versprechen. Nur allzu selten fragen wir danach, ob mehr Kontrolle tatsächlich zu mehr Sicherheit führt, präzisere Taktungen eine höhere Effizienz garantieren, allein aus Quantifizierbarem Prüfsteine für Qualität gewonnen werden können. Selbst werden wir ohnehin immer seltener danach gefragt, ob wir mit dem nächsten Update, dem nächsten Upgrade unseres Lebens überhaupt einverstanden sind.
Es macht ja auch wenig Sinn, sich in den Hochfrequenzhandel mit einem zaghaften „Moment mal, bitte“ einzumischen. Erst recht nicht, wenn man selbst die Aktie ist. Oder etwa doch?
Diese Frage stellt sich gerade in den Städten, also eben jenen Agglomerationen, die schon seit je dem am nächsten gekommen sind, was die Idee eines Lebensraums für Cyborgs ausmacht: nämlich allem voran ein System von Systemen zu sein – von ineinandergreifenden Infrastrukturen, die Organismen und Technologien auf eine Weise miteinander koppeln, verschränken und vernetzen, die sie substanziell formt und mithin gleichsam „programmiert“. Anders als das Dorf ist die Stadt weniger eine Lebens-, als eine Interessensgemeinschaft, die ihre Mitglieder ebenso dazu einlädt, in einer anonymen Masse aufzugehen, wie sie sie auf sich selbst zurückwirft – auf ein Selbst, das sich unter den vom System vorgegebenen Konditionen stets aufs neue formieren muss. Letzteres wird, in Verkennung des Einflusses des Systems, zunächst allein als Freiheit wahrgenommen – die ein solcher Prozess jedoch nur dann und nur insoweit bieten kann, als sich ein solches Selbst dazu ermächtigt sieht, eine Wahl zu haben und zu treffen. Dies wiederum setzt eine Kenntnis des Systems der Systeme voraus, ihrer Strukturen und ihrer Dynamiken sowie der Steuerungsmechanismen, die zu ihrer Beeinflussung zur erfügung stehen.
Unter den gegenwärtigen Konditionen bietet sich damit für urbane Cyborgs, die Zugang zu Infrastrukturen, zu Informations- und Kommunikationssystemen, zu Bildungssystemen, zu Systemen der demokratischen Selbstverwaltung et cetera haben, ein denkbar hohes Potenzial, eine solche Agency zu erlangen, die es ermöglicht, sich ebenso wie gemeinschaftlich genutzte Teile des Systems zu konstituieren, zu formen und zu verändern. Die entscheidende Frage ist in der Tat, ob und wie urbane Cyborgs dieses Potenzial zu nutzen verstehen. Freuen sie sich lediglich über bequeme Infrastrukturen, gute Verkehrsanbindungen, attraktive Arbeitsplätze, vielfältige Kultur- und Freizeitangebote sowie ein optimales Spektrum an Konsumgütern für jeden nur erdenklichen Bedarf? Finden sie darin Genüge über die neuesten Gadgets und eine stabile und schnelle Internetverbindung zu verfügen, um reibungslos zwischen Büro und Home Office zu wechseln und noch auf dem Weg dazwischen ein gutes Geschäft auf den Weg bringen zu können, sich den Inhalt ihres Kühl- und ihres Kleiderschranks ebenso wie ihre Energieversorgung, ihre Krankenversicherung, das abendliche Filmprogramm und die nächste Urlaubsreise zusammenklicken zu können – und vielleicht zwischendurch ins Café zu gehen, um ein aktuelles Foto von der veganen Müsli-Bowl auf eine Fotoplattform zu laden, ins Fitness-Studio, um den Körper zu optimieren und in den Club, um ihn vorzeigen zu können? Aber was genau würde sie dann von jenen unterscheiden, die zu anderen Zeiten und an anderen Orten die im jeweiligen System vorgesehenen Programme abarbeiten? Ist es erst ein spezifisches Level technologischer Entwicklung, das es uns gestattet, von „Systemen“, von „Programmierung“ und von „Cyborgs“ zu sprechen? Oder ist es vielmehr so, dass die Reflexion der Steuerungssysteme und die hiermit einhergehenden Erkenntnisse über ihre Probleme und Potenziale der entscheidende Faktor sind? Natürlich bestehen substanzielle Unterschiede zwischen den Ketten auf einer Sklaven-Galeere und denen in einem Kerker, und erst recht zwischen diesen und einer elektronischen Fußfessel und einem Fitness-Armband oder einer „smarten“ Armbanduhr. Aber wer wollte behaupten, dass sich diese allein oder auch nur zuvorderst an der jeweiligen „Hardware“ und den für ihre Herstellung relevanten Technologien festmachen lassen – und nicht an den Zwecken, zu denen sie hergestellt werden, sowie an ihrem Gebrauch, der den gesellschaftlichen Status ihrer Trägerinnen und Träger bestimmt? Die urbane Cyborg sollte sich daher sehr wohl fragen, warum sie sich ein Fitness- Armband überstreift, das ihre Daten in ein System einspeist, über das sie keine Kontrolle hat, während es ihr zugleich Selbstkontrolle verspricht. Sie sollte sich fragen, welche Konsequenzen ihre jeweiligen Anschlüsse n technologische – aber eben nie allein technische – Systeme haben. Und auf dieser Basis ihre Entscheidungen treffen. Denn wenn sie etwas gegenüber jenen privilegiert, die zu anderen Zeiten, an anderen Orten, in anderen Systemen derart eng an diese angeschlossen wurden oder werden, dann in der Tat, dass sie prinzipiell über die Möglichkeit verfügt, ihre Konfigurationen zu reflektieren und gegebenenfalls mitzugestalten. Und dies gilt selbstredend nicht allein für (Selbst-)Optimierungs- und Kontrolltechnologien, die in Form eines schlichten Fitness-Armbands daherkommen. In allen gegenwärtigen Systemen, in denen wir Cyborgs uns bewegen, geht es um das Zusammenspiel von Hardware, Software und Wetware, von Maschinen, Programmen und Körpern. Folglich auch immer darum, wer oder was hier wen oder was steuert. Wenn lso aus einem technologischen und zugleich sozialen Privileg – das im Übrigen keineswegs alle urbanen Cyborgs gleichermaßen genießen – etwas hervorgeht, dann ist dies ein hohes Maß an Verantwortung. Die Verantwortung, den Systemstatus kontinuierlich zu überprüfen, zu hinterfragen, die Potenziale ebenso wie Probleme zu reflektieren, die mit einer Nutzung und einer Teilhabe einhergehen. Es ist diese Verantwortung, der sich Cyborgs heute stellen müssen. Wir schreiben das Jahr 2020. Die Zukunft ist immer schon jetzt: sie wird durch unsere Entscheidungen und unser Handeln in der realen Gegenwart bestimmt. Verena Kuni